Zufall und Plan(losigkeit)
Seit 1996 ist Emo Welzl ein Professor am Institut für Theoretische Informatik. Seine Karriere hat er der Entwicklung und Analyse kombinatorischer Algorithmen und diskreter Mathematik gewidmet. Er befasste sich dabei unter anderem mit algorithmischer Geometrie und der Analyse geometrischer Strukturen. Nun wird er Ende Januar emeritiert. In diesem Gespräch blicken wir auf seine Karriere zurück und erfahren, wie er den Weg in die theoretische Informatik gefunden hat und was ihn daran fasziniert.
Nach fast 30 Jahren neigt sich Ihre Zeit am D-INFK langsam dem Ende zu. Woran haben Sie als Forscher in den letzten Jahrzehnten gearbeitet?
Wenn Leute mir diese Frage stellen, fällt es mir oft schwer zu erklären, was ich tue und was mich an der theoretischen Informatik fasziniert. In Gesprächen mit Laien kommt unweigerlich die Frage nach Anwendungsmöglichkeiten meiner Forschung auf. Während ihnen ein Beispiel helfen mag, es zu verstehen, geht es für mich nicht um bestimmte Anwendungsmöglichkeiten. Es geht um die reine Freude am Abstrakten. Die Themen, die ich erforsche, sind von Natur aus abstrakt und bieten zahllose potenzielle Anwendungen. Aus meiner Sicht schreitet die Wissenschaft durch Abstraktion voran, da sie eine effiziente Erfassung und Beschreibung von umfangreichem Wissen ermöglicht. Das bedeutet aber nicht, dass angewandte Forschung weniger wichtig ist. Jedoch feuern in mir Mathematiker gewisse Neuronen einfach anders. Wenn es zu einer Anwendung kommt, freut mich das, aber es war nicht meine ursprüngliche Motivation, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Natürlich gibt es andere Theoretiker, vor allem Mathematiker, die auf einer noch viel höheren Abstraktionsebene arbeiten als ich. Das sieht man daran, dass ich gerne in den Bereich der Geometrie eintauche, wo ich doch noch etwas Konkretes habe und etwas zeichnen oder skizzieren kann, zumindest in kleinen Dimensionen.
Vielleicht können Sie sich mit dem Vergnügen identifizieren, ein Sudoku-Rätsel zu lösen. Menschen beschäftigen sich gerne mit Dingen, die von praktischen Anwendungen losgelöst sind. Wenn Sie ein Sudoku lösen, erfüllt das auch keinen unmittelbaren Zweck. Dennoch bereitet es Freude. Und für einen Theoretiker wie mich könnte es dann zum Beispiel eine faszinierende Herausforderung sein, zu erforschen, ob das Sudoku auch automatisiert und von einem Algorithmus gelöst werden kann. Das klingt jetzt so, als ob man Beliebiges erforschen kann. In der Tat, muss man Probleme und Lösungen finden, die andere auch wichtig finden, auch nach vielen Jahren, sonst wird man keinen Erfolg haben.
Können Sie mir ein Beispiel für eine Veränderung nennen, die sich in der theoretischen Informatik im Laufe Ihrer Karriere vollzogen hat?
Eine wesentliche Entwicklung in der theoretischen Informatik, aber auch in der Informatik insgesamt, war der Einbezug der Randomisierung. Randomisierte Algorithmen tauchten Anfang der Siebzigerjahre auf und ich begann mein Studium kurz darauf im Jahr 1977. Ein klassischer Algorithmus folgt einzelnen klar vordefinierten Schritten, um ein gewünschtes Ziel zu erreichen. Rezepte können als Algorithmen betrachtet werden, da sie Schritt für Schritt eine bestimmte Abfolge vorgeben, mit der man schlussendlich ein fertiges, leckeres Gericht gekocht hat. Das ist aber ein relativ langweiliger Algorithmus. Bei interessanteren Algorithmen gibt es Verzweigungen, bei denen eine Entscheidung getroffen werden muss. Da ist es wie im echten Leben, wenn man mit dem Auto an einer Weggabelung steht und entscheiden muss, ob man links oder rechts fahren soll, um ans Ziel zu kommen. Ein klassischer Algorithmus würde dann so lange stehen bleiben, bis er eruiert hat, welcher Weg der richtige ist und erst dann seine Fahrt fortsetzen.
Ein randomisierter Algorithmus dagegen beinhaltet zufällige Entscheidungsfindung. Anstatt zu viel Zeit mit Nachdenken zu verbringen, wirft er eine Münze. Durch diese zufällige Wahl gelangt er durchschnittlich schneller ans Ziel als der klassische Algorithmus. Das ist auch immer wieder eine Diskussion mit meiner Frau. Ich bin eigentlich jemand, der dann in so einer Situation wirklich erst weitermachen will, wenn ich weiss und die Kontrolle habe, wie es weitergeht – also sozusagen ein klassischer Algorithmus. Meine Frau dagegen macht oft einfach weiter und entscheidet spontan. Während ich noch immer überlege, was ich machen soll, hat sie das Ziel bereits erreicht.
Wenn es um randomisierte Algorithmen geht, gibt es zwei Kategorien: Einige sind immer korrekt, aber etwas langsamer, während andere durchschnittlich schneller sind, aber manchmal zu einem falschen Ergebnis gelangen können. Dadurch, dass man eine gewisse Fehlerquote akzeptiert, können Probleme effizienter gelöst werden. Der letztere Ansatz entspricht eher der menschlichen Herangehensweise an Probleme, da wir alle Fehler machen.
Wann haben Ihr Interesse und Ihre Begeisterung für die Mathematik angefangen?
Diese Frage ist einfacher zu beantworten. Ich mochte Mathematik schon in meiner Volksschulzeit, aber es war ungefähr im Alter von fünfzehn Jahren, dass ich rückblickend erkannte, dass es meine wahre Leidenschaft ist. Im Gegensatz zu anderen Kindern verbrachte ich meine Ferien damit, mich in mathematische Probleme zu vertiefen. Und ich fand darin immense Zufriedenheit. Ich bin das schwarze Schaf einer Juristenfamilie. Meine Eltern hatten kein besonderes Interesse an Mathematik. Sie hatten aber nie ein Problem damit, dass ich mich der Mathematik widmen wollte, und erkannten mein Talent dafür. Rückblickend betrachte ich es allerdings als Glück, ein humanistisches Gymnasium besucht zu haben, das sich nicht ausschliesslich auf Mathematik konzentrierte. Zu dieser Zeit war ich zwar nicht besonders an Geschichte, Literatur oder Sprachen interessiert, aber ich schätze es, eine breite Ausbildung erhalten zu haben.
«Irgendwann ist mir einmal aufgefallen, dass ich immer meiner Leidenschaft gefolgt bin und so eigentlich nie eine Entscheidung treffen musste.»Prof. Emo Welzl
Sie entschlossen sich nach dem Gymnasium Ihrer Leidenschaft zu folgen und technische Mathematik an der Technischen Universität Graz zu studieren. Wie kam es dazu, dass Sie den Einstieg in das Gebiet der Informatik fanden?
Damals gab es das Informatikstudium noch kaum. Glücklicherweise hatte ich während meines Studiums einen Professor namens Hermann Maurer, der später auch mein Doktorvater wurde. Er hielt eine fesselnde Vorlesung über Algorithmen und formale Sprachen. Ich war völlig fasziniert von diesen erst kürzlich entdeckten Konzepten. In der Mathematik war man dagegen häufig mit jahrhundertealten Theorien konfrontiert. Während die Mathematik weniger dynamisch erschien, war die Informatik von ständiger Innovation geprägt. Professor Maurer teilte begeistert aktuelle Durchbrüche mit und da hatte man das Gefühl, auch ein Teil davon sein zu können. Es gilt allerdings klarzustellen, dass die Mathematik sich ebenfalls im Fluss befindet, aber zu Beginn des Studiums hatte ich diese ständigen Entwicklungen weniger wahrgenommen.
Dass ich in der theoretischen Informatik gelandet bin, hängt also an Einzelpersonen wie Hermann Maurer. Er merkte rasch, dass ein Mitstudent und ich sehr interessiert waren und so wurden wir beide in seine Forschungsgruppe aufgenommen. Irgendwann ist mir einmal aufgefallen, dass ich immer meiner Leidenschaft gefolgt bin und so eigentlich nie eine Entscheidung treffen musste. Ich hatte damals im Studium auch einen Vortrag über Topologie gehalten, was mir ebenfalls gefallen hat und wo ich in der behandelten Arbeit etwas verbessern konnte. Wenn nun dieser Professor mein Interesse erkannt hätte, dann wäre ich vielleicht in diesem Bereich gelandet.
Sie promovierten dann bei Hermann Maurer und schlugen einen akademischen Weg ein. War es Ihnen immer klar, dass Sie in der Forschung bleiben wollen?
Nein, das ergab sich so. Ich hatte nie bewusst vor, einen Doktortitel zu erlangen, Professor zu werden und an der Universität zu bleiben. Stattdessen bot es sich als eine Möglichkeit an, das weiterzuverfolgen, was mir wirklich Spass macht.
Heutzutage ist es üblicher, dass junge Menschen klar definierte Karriereziele haben. Ich hatte damals keine konkreten Pläne. Das Gebiet der theoretischen Informatik, mit dem ich mich beschäftigt habe, hat bedeutende Fortschritte gemacht und war stark nachgefragt. Ich hatte das Glück, ein Teil davon zu sein. Vielleicht ist es vorteilhaft, nicht ständig alles zu überdenken und jedes Detail des Lebens penibel zu planen. Ich habe immer noch das Gefühl, dass man in dem am besten wird, was man leidenschaftlich gerne macht. Aber ich habe auch Doktorierende getroffen, die die Fähigkeit hatten, strategisch zu planen. Diese Form der Selbstdisziplin ist jedoch etwas, das mir persönlich weniger liegt.
Sie folgten 1987 im Alter von nur 28 Jahren einem Ruf an die Freie Universität Berlin und wurden dort Professor in Mathematik. Warum haben Sie sich dazu entschieden 1996 an die ETH Zürich und in die Schweiz zu wechseln?
Die ETH Zürich ist einfach eine tolle Universität und sowohl in Europa als auch international hoch angesehen. Ich bin dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, hierher zu kommen. Aber auch meine Zeit in Berlin hat einen positiven, bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, das war schon ein grosser Glücksfall. Ich hatte das Privileg, dort in einer faszinierenden Stadt und mit aussergewöhnlichen Kolleginnen und Kollegen zusammen zu arbeiten. Ich war allerdings noch ziemlich jung, als ich in Berlin ankam. Und ich habe mich nach einiger Zeit gefragt, ob ich den Rest meines Lebens dort verbringen möchte. Es ging nicht um Berlin selbst, sondern vielmehr um meinen Wunsch, noch etwas anderes zu erleben.
Hinzu kommt, dass die Schweizer Mentalität und die Berglandschaft für einen Österreicher vom Gefühl her näher sind. Unsere Verwandten in Linz empfanden es so, als wir von Berlin nach Zürich zogen, dass wir ihnen näherkamen. Interessanterweise, wenn man die Entfernungen auf einer Karte vergleicht, ist die Distanz von Linz nach Berlin ungefähr genauso gross wie von Linz nach Zürich. Doch auf emotionaler Ebene fühlt sich Zürich für einen Österreicher viel näher an, und das hat zweifellos auch unsere Entscheidung beeinflusst.
«Mich haben immer das Engagement und die Selbstreflexion fasziniert, die eine bedeutende Anzahl von Studierenden an den Tag legt.»Prof. Emo Welzl
An welchen Moment aus all den Jahren am Departement denken Sie gerne zurück?
Ich habe meine Zeit in Zürich sehr genossen und habe meine Entscheidung, hierher zu kommen, nie bereut. Es geht nicht nur um einen einzelnen Moment, den ich am meisten schätze, sondern um einen Zeitraum. Während ich in Berlin war, hatten wir dort das Graduiertenkolleg «Algorithmische Diskrete Mathematik», dessen Sprecher ich von 1990 bis 1996 war. Als ich nach Zürich kam, kam die Idee für ein gemeinsames Graduiertenkolleg zwischen Berlin und Zürich auf. So entstand das europäische Graduiertenkolleg «Combinatorics, Geometry, and Computation». Es gab Zeiten, in denen einige Forschende aus Berlin hier in Zürich waren und wir dicht gedrängt in den Büros beieinander arbeiteten. Es entstand eine grossartige Atmosphäre und wir haben es wirklich genossen. Wenn ich zurückblicke, ist das eine Zeit, an die ich mich sehr gerne erinnere.
Auch die Zusammenarbeit mit den Doktorierenden und Studierenden am Departement war für mich eine Freude. Mich haben immer das Engagement und die Selbstreflexion fasziniert, die eine bedeutende Anzahl von Studierenden an den Tag legt. Das ist auch das Schöne an diesem Job, dass man stets mit wissbegierigen, interessierten Personen zusammenarbeiten kann.
Sie scheinen sich sehr für den Erfolg der Studierenden zu engagieren. Für Ihre ausgezeichnete Lehre erhielten Sie im November 2023 eine goldene Eule vom Verband der Studierenden an der ETH Zürich (VSETH). Wie kam es dazu?
Oh, das ist eine schöne Geschichte. Ich persönlich bevorzuge es, hauptsächlich an der Wandtafel zu unterrichten. Insbesondere in Fächern wie Mathematik oder Theorie, in denen man Konzepte entwickeln muss und die Details oft essentiell sind. Dabei ist es wertvoll, sich Zeit zu nehmen und die Lösungen entfalten zu lassen, während man auf der Tafel schreibt. Die Geschwindigkeit wird durch das Schreibtempo bestimmt, sodass die Studierenden das Material aufnehmen können, ohne sich gehetzt zu fühlen. Darüber hinaus gibt es den Studentinnen und Studenten die Möglichkeit, auch einmal Luft zu holen, während die Tafel gelöscht wird.
Aufgrund des Online-Unterrichts während Covid in den vergangenen Jahren musste ich mich jedoch anpassen und Folien für meine Vorlesungen erstellen. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich sie am besten gestalten könnte und viel Zeit investiert. Foliensätze gestalte ich sowieso gerne für meine wissenschaftlichen Vorträge. Ich habe Spass an dem gestalterischen Aspekt und finde es wichtig, darüber nachzudenken, was auf der Folie notwendig ist, um nicht zu viel darauf zu schreiben. Zu meiner Überraschung wurde mir eine goldene Eule verliehen und die Laudatio hob die Qualität meiner Folien hervor. Im Rückblick ist es schon ein bisschen witzig, dass ich für meine Folien gelobt wurde, wo ich doch eigentlich liebend gerne an der Tafel vortrage. Unabhängig davon habe ich mich über die Auszeichnung sehr gefreut.
«Allerlei Dinge, die ich nun vierzig Jahre lang gemacht habe, habe ich jetzt ein Jahr lang zum allerletzten Mal getan – das ist manchmal schon etwas emotional und hat etwas Surreales.»Prof. Emo Welzl
Gibt es etwas, das Sie nach Ihrer Emeritierung vermissen werden?
Da lasse ich mich überraschen. Ich kann nicht sagen, dass es spurlos an mir vorbeigeht. Allerlei Dinge, die ich nun vierzig Jahre lang gemacht habe, habe ich jetzt ein Jahr lang zum allerletzten Mal getan – das ist manchmal schon etwas emotional und hat etwas Surreales. Aber was mir am meisten fehlen wird, weiss ich noch nicht. Wenn ich mich in Zukunft danach sehnen werde, Vorlesungen zu halten, werde ich nach Gelegenheiten suchen, mein Wissen weiterhin zu teilen. Und bei der Forschung ist es so, dass der Ruhestand oft als ‘grosses Sabbatical’ für Wissenschaftler bezeichnet wird. Es ermöglicht einem, alle zusätzlichen Verantwortlichkeiten abzugeben und sich ausschliesslich auf die Forschung zu konzentrieren. Als ich von 2016 bis 2018 Departementsvorsteher war, hatte ich schon einmal kaum Zeit zu forschen und damals war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich immer noch von der Forschung fasziniert bin und ob sie für mich noch funktioniert. Es ist ähnlich wie beim Laufen, wo die Dinge mit zunehmendem Alter etwas langsamer werden. Aber beim Laufen kann man messen und sehen, wie schnell man die 100 Meter läuft. Mit dem Verstand kann man immer die Illusion haben, dass er noch genauso gut funktioniert wie früher. Ich wurde dann während meines Sabbaticals 2019 positiv überrascht, wie gut es noch funktionierte und wie gern ich es noch mache. Es war ein tolles Jahr, indem ich sechs Monate in Wien und Berlin gearbeitet hatte und dann noch ein weiteres halbes Jahr in Zürich.
Was haben Sie nun vor?
Meine Frau und ich bleiben in Zürich. Es ist eine wunderbare Stadt, da hier alles reibungslos funktioniert und man die Natur und den See ganz in der Nähe hat. Wir haben sehr gute Freunde hier gefunden. Ausserdem wohnen unsere beiden Söhne in Zürich. Solange sie hier sind, besteht für mich kein Grund, auch nur zu überlegen, woanders hinzuziehen. Jetzt, da ich emeritiert werde, wäre es eigentlich an der Zeit, darüber nachzudenken, was ich als nächstes tun möchte. Eine Weile lang habe ich mir über meine Planlosigkeit Sorgen gemacht, aber dann habe ich beschlossen, dass das nicht unbedingt etwas Negatives sein muss. Anstatt von einer anspruchsvollen Tätigkeit zur nächsten zu springen, werde ich einen Schritt zurücktreten, mich entspannen und sehen, was die Zukunft bringt. Einerseits habe ich das Gefühl, dass es vielleicht etwas früh ist, um in Rente zu gehen. Der Vorteil ist jedoch, dass ich es zu einem Zeitpunkt tue, an dem ich immer noch für neue Möglichkeiten offen bin. Vielleicht werde ich nach meiner Pensionierung mehr Zeit in unserem Garten verbringen, oder vielleicht werde ich meine Forschung fortsetzen. Ich lasse mich überraschen.