«Dies ist ein Schritt zum besseren Verständnis der Ermüdbarkeit»
Die Mehrheit der Patienten mit multipler Sklerose empfindet Ermüdbarkeit (Fatigue) als ihr beschwerlichstes Symptom. Und doch ist diese Ermüdbarkeit nach wie vor kaum erforscht. Die Doktorandin Liliana Barrios will das ändern, indem sie mobile Methoden einführt, mit denen Patienten ihre motorische Ermüdbarkeit häufiger und auf Distanz messen können.
Ihr Forschungsinteresse gilt der Schnittstelle zwischen Mobile Health, dem maschinellen Lernen und der Mensch-Computer-Interaktion. Warum ist das so?
Ich möchte untersuchen, wie wir Technologien (z. B. Smartphones und Wearables) einsetzen können, um medizinische Zustände, insbesondere chronische Krankheiten wie multiple Sklerose (MS), besser zu verstehen. Bis heute beruht unser Verständnis von chronischen Erkrankungen auf Kurzzeit- oder sogar Einzelmessungen, die in einer klinischen Standardumgebung mit spezialisierter Ausrüstung und spezialisiertem Personal ausgeführt werden. Diese Messungen sind teuer und zeitaufwendig und können daher nicht sehr oft durchgeführt werden. Auch wenn sie uns erlauben, spezifische Prozesse im Körper zu verstehen, geben sie uns nur eine Momentaufnahme des Patienten. Chronische Zustände sind im Leben der Patienten per Definition ständig gegenwärtig. Ich glaube, dass die Kombination von Mobile Health, maschinellem Lernen und Mensch-Computer-Interaktion es uns ermöglicht, chronische Krankheiten besser zu verstehen. Wie? Dank der kontinuierlichen Überwachung und der Entwicklung neuer Assessment-Aufgaben, die häufiger und auch auf Distanz durchgeführt werden können.
«Ich glaube, dass die Kombination von Mobile Health, maschinellem Lernen und Mensch-Computer-Interaktion es uns ermöglicht, chronische Krankheiten besser zu verstehen.»Liliana Barrios
Eines Ihrer Forschungsprojekte konzentriert sich auf die Messung der motorischen Ermüdbarkeit bei MS-Patienten. Warum ist die motorische Ermüdbarkeit besonders relevant?
Allgemeine Müdigkeit ist ein häufiges beeinträchtigendes Symptom vieler Autoimmunerkrankungen, einschliesslich MS. Bis zu 90 % der MS-Patienten klagen über Ermüdbarkeit, und viele sagen, dass sie dieses Symptom am meisten belastet. Trotz ihrer hohen Prävalenz ist die Ermüdbarkeit noch wenig erforscht. Die subjektive Natur der Erschöpfung macht ihre Quantifizierung schwierig. Heutzutage verlassen wir uns bei der Beurteilung der Ermüdbarkeit hauptsächlich auf Fragebögen. Diese Fragebögen sind subjektiv und fordern die Patienten auf, eine retrospektive Analyse durchzuführen, was eine Erinnerungsverzerrung zur Folge haben kann. Motorische Ermüdbarkeit ist die objektive Abnahme der Leistung während einer motorischen Aufgabe. Forschende vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen motorischer Ermüdbarkeit und subjektiver Erschöpfung gibt. Einige Ergebnisse sind jedoch nicht schlüssig. Die Haupteinschränkung besteht darin, dass Studien unterschiedliche Ansätze zur Quantifizierung der motorischen Ermüdbarkeit verwenden.
Wie wurde die motorische Ermüdbarkeit bisher gemessen? Und was ist Ihr neuartiger Ansatz?
Am häufigsten wird die motorische Ermüdbarkeit mit speziellen Geräten gemessen, namentlich mit Hand- oder Knie-Dynamometern. Diese Geräte messen den Kraftabfall mit der Zeit und erfordern eine Überwachung des Patienten. Wir stellten eine neuartige, allgegenwärtige, mobilbasierte Methode vor, die es den Patienten ermöglichen soll, ihre motorische Ermüdbarkeit selbstständig zu messen: «Rapid Alternating Finger Tapping» (auf Deutsch «schnelles abwechselndes Fingertippen»). Wir glauben, dies ist ein Fortschritt auf unserem Weg zu besserer Messbarkeit und einem besseren Verständnis der Ermüdbarkeit.
Wie funktioniert diese Methode?
Zuerst muss das Smartphone horizontal auf eine harte Oberfläche (z. B. auf einen Tisch) gelegt werden. Dann bitten wir die Patienten, mit dem Zeige- und Mittelfinger abwechselnd schnell auf den Bildschirm des Smartphones zu tippen, während ihre Hand auf der Tischoberfläche ruht. Das Ziel ist es, 30 Sekunden lang so schnell wie möglich zu tippen. Innerhalb dieser 30 Sekunden kann ein objektiver Leistungsabfall gemessen werden, indem die Berührungsdauer jedes Fingertipps analysiert wird. Mit fortschreitender Zeit und abnehmender Leistung der Testperson nimmt die durchschnittliche Berührungsdauer zu.
«Ich bin sehr daran interessiert, tragbare Geräte zu verwenden, um chronische Krankheiten zu verstehen»Liliana Barrios
Auf welche Herausforderungen sind Sie bei der Entwicklung Ihrer App gestossen?
Eine Herausforderung bestand darin, die richtige Dauer für die Tippaufgabe herauszufinden, um die motorische Ermüdbarkeit korrekt zu erkennen. Wir begannen mit einer Gruppe von gesunden Teilnehmenden, um herauszufinden, wie schnell ihre Leistung nachliess. Die langwierige Aufgabe von etwa 3000 Fingertipps war hart für sie, half uns aber zu erkennen, dass 500 Tipps ausreichen, um die motorische Ermüdbarkeit zu messen. Eine zweite Herausforderung bestand darin, die maximale Tippdauer für MS-Patienten herauszufinden. Durch Tests und Rückmeldungen von den Patienten konnten wir die Dauer unserer Aufgabe schliesslich auf 30 Sekunden festlegen.
Ihr mobiler Ansatz ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen dem Departement Informatik der ETH Zürich, der Universität Zürich und dem Universitätsspital Zürich. Können Sie uns mehr über diese Zusammenarbeit erzählen?
Wir arbeiten sehr eng mit Prof. Andreas Lutterotti von der Universität Zürich und seinem Team zusammen, die sich auf experimentelle Forschungstherapien für MS-Patienten konzentrieren. Es ist eine Win-win-Situation: Ich bin sehr daran interessiert, tragbare Geräte zu verwenden, um chronische Krankheiten zu verstehen, und Prof. Lutterotti war sehr offen für eine Zusammenarbeit mit uns.
Was ist der nächste Schritt in Ihrer Forschung über motorische Ermüdbarkeit?
Zunächst müssen wir noch evaluieren, ob unsere mobilbasierte Technik auch ohne Überwachung der Patienten funktioniert. Dann möchten wir die kognitive Ermüdbarkeit besser verstehen. Und schliesslich freuen wir uns darauf, weitere Aspekte der Ermüdbarkeit zu untersuchen.
Glauben Sie, dass Ihr Ansatz zur Messung der motorischen Ermüdbarkeit bei MS-Patienten auch in anderen Bereichen Anwendung finden könnte?
Ja, natürlich. Ich denke, er kann bei Patienten mit chronischen Erkrankungen im Allgemeinen oder bei Patienten mit chronischer Erschöpfung oder krebsbedingter Fatigue angewandt werden.