"Im Herzen bleibe ich ein Ingenieur"
Für dieses zweiteilige Interview besuchen wir unseren Alumnus Tobias Nägeli. Im zweiten Teil gibt uns Tobias einen Einblick in seine damaligen Studientage und erzählt, wie er seine drei Mitgründer kennengelernt hat. Ausserdem erfahren wir mehr darüber, welche Fähigkeiten aus seinem Studium ihm heute als CEO zugutekommen.
Tobias Nägeli studierte von 2006 bis 2013 an der ETH Zürich Elektrotechnik und Informationstechnologie. Für das Doktorat wechselte er in die Informatik und promovierte 2018 bei Professor Otmar Hilliges. Während seines Studiums fokussierte sich Tobias auf Drohnen. Seine Dissertation, die sich mit der Automatisierung von Drohnenflügen befasste, führte Anfang 2019 zur Gründung des ETH-Spin-offs Tinamu.
Versteckt im Keller des Departements Informatik, lag früher ein Forschungslabor. Heute dient der grosse, offene Raum als Lernbereich für Studierende. Um Zugang zu erhalten, muss man einen grossen roten Knopf neben der verschlossenen Eingangstür drücken. Gleich darauf ertönt ein kurzer Alarmton. Sofort eilt ein hilfsbereiter Student herbei und öffnet uns die Tür. «Es ist unglaublich, dass dieser Knopf immer noch funktioniert. Die Drohnenbatterie, die den Alarm mit Strom versorgt, hätte schon längst den Geist aufgeben müssen», erzählt Tobias Nägeli begeistert. Ein Kollege hatte einst den Alarm geschickt im Raum versteckt, und die genaue Position ist mittlerweile in Vergessenheit geraten. Neugierig betritt der Alumnus sein ehemaliges Labor. Die Zeit scheint innerhalb dieser Wände stehengeblieben zu sein, so als ob Tobias und seine Kollegen erst gestern die ETH verlassen hätten. Sein Name steht noch immer auf einer der Wandtafeln, die Geburtsanzeige des Kindes eines Freundes hängt noch an Tobias’ altem Arbeitsplatz.
Unzählige Drohnen baumeln von der Decke, jede mit ihrer eigenen Geschichte. «Diese Drohne hier war der Auslöser für mehrere Start-ups, die aus diesem Labor hervorgegangen sind – einschliesslich Tinamu. Und die Drohne da drüben habe ich im Gymnasium gebaut. Sie ist also mindestens zwanzig Jahre alt», erzählt Tobias, während er durch die Zeitkapsel schlendert und jeden Winkel nach weiteren Erinnerungsstücken durchstöbert. Von seinen Funden knipst er zahlreiche Fotos und verkündet vergnügt: «Die Aufnahmen muss ich sofort mit den anderen in unserem Chat teilen.»
Kannst du mir mehr über die Anfänge in diesem Labor erzählen, Tobias?
Alles begann 2010 als Studierendenprojekt unter der Leitung von Professor Marc Pollefeys. Damals befand ich mich noch im zweiten oder dritten Bachelorsemester meines Elektrotechnikstudiums. Als ich durch die Flure des CNB-Gebäudes schlenderte, stiess ich auf einen Aushang. Darauf stand, dass studentische Hilfskräfte für ein Forschungsprojekt gesucht werden. Auf dem Plakat war auch ein kleiner Helikopter mit einem Computer im Innern abgebildet. Das erregte meine Aufmerksamkeit. Ich beschloss, mich für diesen Job zu melden. Das war der Startpunkt. Von da an wurden Drohnen ein fester Bestandteil meines Studiums. Aber meine Leidenschaft begann schon früher. Wie gesagt, im Gymnasium habe ich bereits meine erste Drohne gebaut und davor in den Sommerferien an Modellfliegern gebastelt.
Wie viel Zeit hast du hier unten verbracht?
Wir lebten praktisch in diesem Kellerlabor. Mit «wir» meine ich die Leute aus den Teams von den Informatikprofessoren Marc Pollefeys, Markus Gross und Friedemann Mattern. Unter ihnen waren nicht nur Bachelor- oder Masterstudierende, sondern auch Doktorierende. Obwohl wir als Gruppe über die Jahre verschiedenen Instituten oder gar Departementen zugewiesen waren, haben wir uns stets hier unten aufgehalten und unsere Forschungsarbeiten geschrieben. Ausserdem haben wir gemeinsam gegessen und Sportkurse im Akademischen Sportverband (ASVZ) im Gebäude nebenan besucht. Das war wirklich wunderbar. Bis heute stehe ich mit diesen Personen in engem Kontakt. Wir treffen uns immer noch regelmässig und halten uns über Gruppenchats gegenseitig auf dem Laufenden. Viele haben eigene Start-ups oder Spin-offs gegründet. Nur ein paar Häuser vom heutigen Tinamu-Büro entfernt liegt Auterion – ein weiteres ETH-Spin-off, das seine Wurzeln in diesem Labor hat.
Tinamu hat seinen Sitz am Fusse des Üetlibergs. Die Räumlichkeiten haben verblüffend viel Ähnlichkeit mit dem ehemaligen ETH-Labor – wenn auch viel moderner und professioneller. Sie umfassen rund zwanzig Arbeitsplätze, einen Meetingraum, eine Küche und eine kleine Testzone für die Drohnen. Seine Mitarbeitenden wählt Tobias sorgfältig aus. Viele haben einen Bezug zur ETH. «Als Spin-off nutzen wir die Möglichkeit, ETH-Studierende bei ihren Semester- oder Masterarbeiten zu unterstützen», erklärt Tobias und erzählt, dass sie so eines ihrer Teammitglieder gefunden haben. Generell scheint er mit seinen Mitarbeitenden eng verbunden zu sein. Gelegentlich gehen sie in der Mittagspause auf dem Üetliberg joggen, und in der Küche des Start-ups hängen unzählige Polaroid-Fotos von gemeinsamen Weihnachtsfeiern und Festen, die sie in ihrem Büro gefeiert haben. Das erinnert ebenfalls an die früheren Tage im Kellerlabor, wo Tobias zwei seiner Mitgründer kennengelernt hat.
Wie hast du deine Mitgründer genau kennengelernt?
Während meines Doktoratsstudiums wurde ich von Masterstudierenden unterstützt, einer davon war Samuel Oberholzer. Zur gleichen Zeit, als er seinen Master abgeschlossen hatte, hatte ich meinen Gleitschirmunfall, durch den ich monatelang kaum laufen konnte. Ich brauchte jemanden, der mich bei meiner Forschung tatkräftig unterstützt. Um zu testen, wie gut meine Programmierung funktionierte, flogen wir die Drohnen über ein grosses Maisfeld. Dort stürzten sie gelegentlich ab. Samuel holte die Drohnen dann zurück und half mir, sie zu reparieren. Gemeinsam kamen wir auf die Idee, ein Spin-off zu gründen. Ich meldete uns bei Venture Kick an, wir gewannen die erste Stufe und erhielten 10 000 Franken. Für die zweite Stufe brauchte es dann einen Businessplan. Ich wusste aber nicht einmal, wie man das Wort «Business» richtig buchstabiert. Also habe ich einen Job auf Cofoundme.org ausgeschrieben und fand so David Lanter, der Wirtschaftsingenieurwesen an der EPFL studiert hatte. David und ich arbeiteten den Businessplan gemeinsam aus und gewannen die zweite Stufe bei Venture Kick. Daraufhin gründeten wir zu dritt offiziell das Unternehmen. Sechs Monate später wurde Fox Sports auf uns aufmerksam und lud uns ein, unsere Technologie in Los Angeles vorzustellen. Zu diesem Zeitpunkt holte ich Daniel Meier an Bord, der durch sein vorheriges Unternehmen Aerotain bereits Erfahrung mit Drohnen, Filmaufnahmen und Events hatte. Er wurde unser vierter Mitgründer. Daniel und ich kannten uns von früher. Während er Aerotain gründete, arbeitete ich noch im ETH-Labor. Dort hatten wir bereits bei der Programmierung des Pixhawk-Computers zusammengearbeitet, mit dem die Aerotain-Drohne fliegt.
«Ich suchte nach Personen, die meine Schwächen durch ihre Stärken ergänzen.»Tobias Nägeli
Wie würdest du die Beziehung zu deinen Mitgründern beschreiben?
Auf gewisse Weise ähnelt sie einer romantischen Beziehung – sie ist nur wesentlich komplizierter. Auch zwischen den Mitgründern braucht es ein gutes persönliches Verhältnis. Man sieht sich täglich und trifft unzählige, manchmal schwierige Entscheidungen. Da kann es schon mal zu Reibereien kommen. Besonders in schwierigen Zeiten ist es darum wichtig, dass man sich vertraut und Verständnis füreinander aufbringt. Auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in die der Mitgründer ist unerlässlich. Ich bin zum Beispiel für die Finanzierung verantwortlich, und in wirtschaftlich schwierigen Phasen können da schon Zweifel aufkommen. Hinzu kommt, dass Mitgründer nicht nur auf der persönlichen, sondern auch auf der beruflichen Ebene gut funktionieren müssen. Ich suchte nach Personen, die meine Schwächen durch ihre Stärken ergänzen. Sich selbst mehrfach zu replizieren, führt meiner Meinung nach nicht zu geschäftlichem Wachstum. Man benötigt unterschiedlichste Fähigkeiten in einer Firma: jemanden, der Ideen und Kreativität einbringt, eine andere Person, die sich in Planung und Präzision auszeichnet, einen technikversierten Experten und so weiter. Wir haben in unserer Firma klar definierte Rollen, die uns voneinander unterscheiden. Als Team können wir so fast unlösbare Probleme angehen, die alleine nicht zu bewältigen wären. Man muss Hilfe annehmen können. Je mehr Menschen sich deiner aktuellen Herausforderung bewusst sind, desto mehr Köpfe denken über eine mögliche Lösung nach. Es geht um kollektive Intelligenz. So steigt die Wahrscheinlichkeit, eine Lösung zu finden.
Die Ansicht, dass man nicht alles selbst lösen kann, zeigt sich auch darin, dass euer Unternehmen keine eigenen Drohnen herstellt. Stattdessen kauft ihr sie von der Firma Parrot ein. Was steckt dahinter?
Es geht darum, Stärken und Schwächen zu erkennen und sie zu nutzen. Obwohl wir wissen, wie man Drohnen baut, liegt unser Schwerpunkt auf der Datenanalyse. Firmen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen, interessieren sich für praktische Dinge wie Bestandsverwaltung, Verkaufsplanung und Logistikoptimierung. Es bringt ihnen nichts, 20 GB hochauflösende Bilder aus ihren Industriehallen zu haben. Unsere Mission besteht darin, Daten zu generieren und Analysetools zu nutzen, um wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen. Eine Drohne ist lediglich ein Mittel zum Zweck.
Früher hast du selbst an Drohnen herumgetüftelt. Dein Arbeitsbereich hat sich nun ziemlich verändert. Siehst du diese Veränderung eher positiv oder negativ?
Obwohl ich bei Tinamu die Rolle des CEO übernommen habe, bleibe ich im Herzen ein wenig Ingenieur. Manchmal vermisse ich es fast ein bisschen, Drohnen zu reparieren. Aber meine Problemlösefähigkeiten kommen mir auch bei der Führung eines Unternehmens und beim Fundraising zugute. Es ist sehr spannend, sich in diese neuen Bereiche einzuarbeiten und weitere, neue Skills zu erlernen. Das habe ich etwa durch einen Nachdiplomstudiengang an der Universität St. Gallen getan. Und meine Ideen kann ich trotzdem noch in Gesprächen mit unserem CTO Samuel einbringen. Und um ehrlich zu sein, obwohl ich es früher geliebt habe, Drohnen zu bauen, brachte es auch seine eigenen Frustrationen mit sich, zum Beispiel das nächtliche Reparieren von kaputten Drohnen. Während meiner Dissertation führten wir im Winter Experimente in einer Dreifachturnhalle durch, die wir jeweils von 22.00 Uhr abends bis 6.00 Uhr morgens nutzen durften. Tagsüber konzentrierten wir uns also auf die Programmierung, und abends liessen wir die Drohne fliegen. Dabei gab es viele Abstürze, die Reparaturen erforderten. Oft hätten wir am liebsten aus Frust geweint, aber dafür war keine Zeit. Wir mussten die Drohne weiterentwickeln, um sie am nächsten Tag erneut zu testen. Das ist etwas, was ich während meines Doktorats gelernt habe: widerstandsfähig sein. Manchmal fliegt die Drohne gegen eine Wand, und du hast eine Abgabefrist für ein Paper im Hinterkopf. Du weisst, dass du noch ein weiteres Jahr bleiben musst, wenn du diese Frist nicht einhältst. Also vergiesst du zwar ein paar Tränen, gibst aber niemals auf und strebst danach, eine Lösung zu finden.
«Ich übe jede Präsentation zwanzig oder dreissig Mal. Das hilft mir, mich zu konzentrieren und meine Inhalte präzise zu vermitteln.»Tobias Nägeli
Vorträge und Präsentationen sind ein wichtiger Aspekt deiner jetzigen Arbeit. Wie fühlst du dich, wenn du in die Rolle eines Verkäufers schlüpfen musst?
Nun, das kommt darauf an. Das Fundraising ist bisher gut gelaufen, aber es gibt sicherlich Menschen, die darin noch besser sind als ich. Vor einem grossen Publikum zu sprechen, ist eine Fähigkeit, die ich an der ETH erworben habe, aber ein Vorfall verursachte bei mir eine mentale Blockade. Ein Doktorand teilte mir in einem Masterkurs mit, dass eine bestimmte Gruppe von Professoren im Hörsaal sitzen würde und meine Präsentation darum fehlerfrei sein müsse. Das löste bei mir Panik aus, und ab diesem Zeitpunkt hatte ich Prüfungsangst. Um diese zu überwinden, besuchte ich sogar ein Seminar zum Thema, in dem der Dozent uns riet, die Prüfungssituation wiederholt zu simulieren. Er riet mir, einen Tag vor der Prüfung oder Präsentation bereits in den Raum zu gehen, die Übungsprüfung im gleichen Zeitraum wie später die eigentliche Prüfung zu lösen und dasselbe bei Präsentationen zu tun.
Ich erinnerte mich an diesen Rat und wurde allmählich besser – bis ich meine Masterarbeit präsentieren sollte. Wie im Kurs gelernt, hielt ich eine Übungspräsentation vor meinem Masterarbeitsbetreuer Alexander Domahidi. Während ich ihm die Präsentation vortrug, schickte er eine E-Mail an alle, in der er mitteilte, dass ich leider krank geworden sei und sich meine Masterarbeitspräsentation um zwei Wochen verschieben würde. Dann bat er mich, täglich in sein Büro zu kommen und ihm den Vortrag zu halten. Ich übte das Vortragen mindestens fünfzig Mal. Die eigentliche Präsentation war dann so ausgezeichnet, dass sogar drei Professoren aufstanden und applaudierten. Diese Situation hat mir so viel Selbstvertrauen gegeben, dass ich jetzt mehr Freude am Vortragen habe. Trotzdem übe ich jede Präsentation immer noch zwanzig oder dreissig Mal. Das hilft mir, mich zu konzentrieren und meine Inhalte präzise zu vermitteln. Wenn du mich jetzt vor hundert Leute stellen und sagen würdest: «Du hast 30 Sekunden. Erzähl mir von Tinamu. Los!» Nein, das würde mir keinen Spass machen. Wenn ich jedoch Zeit habe, mich vorzubereiten, und weiss, was ich sagen will, macht es mir grosse Freude, über mein Unternehmen zu sprechen. So wie ich das heute tun durfte.
Der erste Teil des Interviews: «Eine Firma zu gründen ist wie Gleitschirmfliegen»
Im ersten Teil lesen wir mehr über die turbulente Zeit der Firmengründung und darüber, wie es Tobias und seinen drei Mitgründern gelang, den richtigen Markt für ihre Technologie zu finden. Ausserdem erfahren wir, was seine Hobbys Marathonlaufen und Gleitschirmfliegen mit der Gründung eines Unternehmens gemeinsam haben und wie ein tragischer Unfall seine Risikobereitschaft beeinflusste.