«Ich wollte die Welt nicht retten»
Wie verändert das Internet der Dinge unser Leben? Was bedeutet die Informatik für die Gesellschaft? Professor Friedemann Mattern forschte an kleinen Dingen im grossen Kontext. Letztes Jahr wurde er emeritiert.
Friedemann Mattern provozierte. Seine Forschungsprojekte erregten mediale Aufmerksamkeit, von Eierkartons, die nach einem Sturz ein SMS an die Lagerverwaltung schicken, bis hin zu Apps, die den Energieverbrauch senken. An seinen Vorlesungen schieden sich die Geister der Studierenden. Er hielt Vorträge vor Bundesräten, beriet CEOs und debattierte mit Juristinnen und Juristen über die rechtlichen Auswirkungen selbstfahrender Autos. Wollte Mattern die Welt retten? «Retten nicht, aber zum Nachdenken anregen», sagt er. «Was bedeuten diese neuen Technologien für die Gesellschaft? Für die Wirtschaft?»
21 Jahre lang forschte und lehrte der nun emeritierte Professor am Departement Informatik der ETH Zürich auf dem Gebiet des Ubiquitous Computing, das alltägliche Gegenstände «smart» macht. «Der Begriff klingt für Deutschsprachige etwas mystisch und ist schwer auszusprechen», merkt der 65-Jährige an. Er war es, der vor 20 Jahren den im englischen Sprachraum bereits bekannten Ausdruck «Internet der Dinge» auch in die deutsche Sprache einführte.
Das kritische Hinterfragen lernte Mattern früh. Geboren 1955 in Freiburg (DE) in eine Diplomatenfamilie, bereiste er schon als Kind die Welt. Die neunjährige Gymnasialzeit verbrachte er an der internationalen Deutschen Schule in Paris, wo die engagierten Lehrpersonen und die antiautoritäre Stimmung der 1960er- und 1970er-Jahre seinen Verstand schärften. Über Freunde der Familie machte er erste Erfahrungen mit Computern und entschied sich für ein Informatikstudium an der Universität Bonn – und bereute diese Entscheidung fast sofort. «Der Einstieg war sehr theoretisch und abstrakt», erinnert er sich.
«Der Einstieg ins Studium war sehr theoretisch und abstrakt. Aber schon bald merkte ich: Da tut sich eine Welt auf.»Prof. em. Friedemann Mattern
Trotzdem harrte der junge Mattern aus und fand bald wieder Gefallen an seinem Fach, weit über den Vorlesungsstoff hinaus. «Ich merkte: Da tut sich eine Welt auf», sagt er. Die Entscheidung, nach dem Diplomstudium in dieser Welt zu bleiben, fiel ihm trotzdem nicht leicht. In einem dreistündigen Telefongespräch überzeugte ihn schliesslich sein Betreuer, an der Technischen Universität in Kaiserslautern zu doktorieren.
Die Seele des Ingenieurs
Die Zeit in Kaiserslautern machte Mattern international bekannt. Zusammen mit weiteren Forschenden erfand er die Vektoruhr: eine Softwarekomponente, die Ereignisse in verteilten Systemen mit Zeitstempeln versieht und so ihre Reihenfolge festhält. «Das ist bis heute mein meistzitiertes Paper», schmunzelt Mattern. «Ich bin schon ein wenig stolz darauf.» Gleichzeitig hielt er bereits als Doktorand eine Vorlesung zu verteilten Algorithmen, die sich über alle Stationen seiner Karriere bis hin zu seiner Emeritierung an der ETH Zürich grosser Beliebtheit bei den Studierenden erfreute.
Die Zukunft des jungen Forschers schien gesichert. Es folgte eine Professur in Saarbrücken, dann in Darmstadt. Mattern gründete ein Graduiertenkolleg und organisierte ein Seminar zu seinem Steckenpferd, der Geschichte der Informatik. Der Blick auf die Geschichte schärfte sein Verständnis der Gegenwart: «Ich merkte: Wenn die Computer weiterhin kleiner werden, sind bald Dinge möglich, die wie Science-Fiction anmuten.» Was das für die Gesellschaft bedeuten würde, wollte er nicht nur beobachten, sondern mitgestalten. «Ich hatte seit jeher auch die Seele des Ingenieurs in mir», sagt Mattern. Schon als Kind hatte er mit Elektronik gebastelt, Radios und Rechenmaschinen gebaut. Auch das zog ihn zu den physischen Facetten der Informatik.
Just zu diesem Gesinnungswandel sah Mattern die Stellenausschreibung für eine Professur an der ETH Zürich im Bereich «Distributed Computing». Ein Neuanfang, eine Tabula rasa. Sollte er es riskieren? «Wenn du es nicht probierst, wirst du es später bereuen», warnte Matterns Partnerin, ebenfalls Informatikprofessorin. Er bekam die Stelle, haderte aber noch immer mit der Entscheidung. In Darmstadt hatte er einen Ruf, ein Netzwerk, war beliebt bei den Studierenden. An der ETH erwartete ihn Ungewissheit. «Ich bin der ETH Zürich bis heute sehr dankbar, dass man mir viel Zeit für diese Entscheidung gelassen hat», sagt er.
Horizonte erweitern
1999 begann Friedemann Mattern, seine Forschungsgruppe für Ubiquitous Computing am Departement Informatik der ETH Zürich aufzubauen. Spätestens mit dem Aufkommen des Smartphones übertraf das neue Forschungsgebiet seine Erwartungen. «Das Smartphone hat drei Schnittstellen: zum Menschen, zum Internet, wo beliebiges Wissen aufgerufen werden kann, und – über Sensoren, Bluetooth und die Kamera – zur physischen Welt», erklärt Mattern. Ein ideales Medium für das Internet der Dinge. Als um die Jahrtausendwende die ersten Kamerahandys aufkamen, sah der Professor Potenzial: Könnte man zum Beispiel Software entwickeln, um mit den noch niedrig auflösenden Kameras Strichcodes auf Produkten zu lesen? Knapp zehn Jahre später gründeten Matterns Doktoranden basierend auf dieser Idee das Spin-off Scandit, das heute rund 250 Mitarbeitende auf der ganzen Welt zählt.
Es folgten zahlreiche weitere Forschungsprojekte, manche verspielt, manche provokativ: ein Spieltisch mit RFID-Spielkarten, dessen Spielverlauf man auf dem Handy nachverfolgen konnte; eine dynamische Haftpflichtversicherung für ein Auto, die die Police dem Fahrstil anpasste; ein Sensor für Topfpflanzen. Aus Letzterem wurde ein weiteres Spin-off, Koubachi, das 2015 von der Husqvarna Group aufgekauft wurde.
Die physische Seite der Informatik: Mit dem Wechsel an die ETH Zürich wandte sich Mattern dem Internet der Dinge zu, wie etwa diesem Eierkarton, der nach einem Sturz die Lagerverwaltung benachrichtigt.
Kann man mit dem Mobiltelefon Strichcodes lesen? Mattern und seine Doktorierenden experimentierten bereits mit den ersten Kamerahandys damit. Einige Jahre später entstand daraus das Spin-off Scandit, das heute 250 Mitarbeitende zählt. Auch spielerische Projekte gehörten dazu: Mattern demonstriert Spielkarten mit RFID-Chip. Der dazugehörige Spieltisch übertrug den gesamten Spielverlauf aufs Handy.
Mit der Technologie des 21. Jahrunderts die Probleme des 20. lösen: Der Smart Energy eMeter zeigt den Energieverbrauch auf dem Smartphone an und hilft so beim Energiesparen.
Wertvolle Kollaboration: Bei vielen seiner Projekte arbeitete Mattern mit dem ETH-Professor Elgar Fleisch (rechts) und mit der Industrie zusammen.
Auf seinen Lorbeeren ausruhen wollte sich Mattern nie. Als das Internet der Dinge in aller Munde war, wandte er sich dem nächsten zukunftsorientierten Gebiet zu, Smart Energy. «Wir fragten uns: Können wir mit der smarten Technik des 21. Jahrhunderts die Sünden des 20. Jahrhunderts reparieren?» Ob den privaten Energieverbrauch mithilfe einer App senken, Kraftwerkbetreibern mit den neuesten Technologien auf die Sprünge helfen oder eine Vorlesung zu smarter Energie halten, erneut agierte er mit seiner Forschungsgruppe an der vordersten Front mit. «Dank dem ausgezeichneten Ruf der ETH Zürich hatte ich gute, abenteuerlustige Doktorandinnen und Doktoranden», sagt Mattern. «Heute haben sie selbst Professuren, arbeiten bei Start-ups und in Forschungsabteilungen von Konzernen und gestalten die Zukunft mit – das freut mich am meisten.»
Seinen kritischen Blick und sein enormes Wissen über die Geschichte der Informatik brachte Mattern auch in seine Vorlesungen ein. Was bei einigen Studierenden für Unmut sorgte, machte ihn für viele andere zum Lieblingsprofessor. «Ich habe gerne unterrichtet», sagt er. «Diejenigen Studierenden, die begeistert waren und Fragen gestellt haben, haben die negativen Rückmeldungen und den zusätzlichen Aufwand wettgemacht.»
Während seiner Zeit an der ETH Zürich erweiterte Mattern nicht nur die Horizonte der Studierenden, sondern auch die des Departements selbst. Nachdem er für einige Jahre die Schirmherrschaft über die von Doktorierenden geleitete Frauenförderung (heute CSNOW) innegehabt hatte, übernahm er 2010 das Amt des Departementsvorstehers und setzte alles daran, die Unterstützung seiner Kolleginnen und Kollegen sowie der Schulleitung für neue Fachgebiete und vielversprechende Nachwuchsforschende zu gewinnen. Auch dank ihm sind Machine Learning, Human Computer Interaction und Cybersecurity heute fest am D-INFK verankert.
Die Wissenschaft fördern
Die Entwicklung der Informatik sieht der Wissenschaftler trotzdem nüchtern. «Der Umbruch ist gross, aber nicht einmalig», sagt er. «Ganz ähnlich verlief etwa die Einführung der Elektrizität vor über 100 Jahren.» Skeptisch stimmt ihn der zunehmende Medienrummel rund um gewisse Technologien. So sei die künstliche Intelligenz weder so neu noch so weit fortgeschritten, wie Menschen glauben, ermahnt Mattern. Zu viele falsche Versprechen könnten der Informatik das Vertrauen der Gesellschaft kosten. «Die Technik ist kein Selbstläufer. Der Fortschritt ist möglich, braucht aber enorme Investitionen – und die tätigt die Industrie nur, wenn Menschen bereit sind, ihr Geld für Informationstechnologien auszugeben.»
Diesen differenzierten Blick auf sein Fach wollte Mattern auch in der Vorlesung Informatik II für angehende Elektroingenieurinnen und -ingenieure vermitteln. Im Rahmen der Critical Thinking Initiative der ETH Zürich reicherte er die Vorlesungsfolien mit sorgfältig recherchierten historischen Zusatzmaterialien an. In die finale Fassung dieses monumentalen Skripts investierte er die ersten Monate nach seiner Emeritierung. «Meine Vorlesungen vermisse ich am meisten», seufzt er.
Obwohl er die obligatorische Emeritierung aller Professorinnen und Professoren an der ETH Zürich mit 64 bzw. 65 Jahren kritisch betrachtet, setzt sich Mattern bewusst mit seiner neuen Rolle als Professor emeritus auseinander. «Ich habe begonnen, gewisse Aufgaben abzugeben», sagt er. «Aber ich merke noch erstaunlich wenig davon.» Noch immer ist er in unterschiedlichen Gremien und Komitees an und ausserhalb der ETH Zürich aktiv, berät Unternehmen und Hochschulen. «Das sehe ich als meine Pflicht an», sagt er. «Ich möchte die Wissenschaft auch weiterhin fördern.» Er freut sich aber auch darauf, mehr Zeit mit seiner betagten Mutter in Freiburg zu verbringen, und auch mit seiner Partnerin, mit der er über 20 Jahre lang eine Fernbeziehung geführt hatte. «Manchmal frage ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich in die Industrie gegangen wäre», gibt er zu. «Rückblickend denke ich aber, dass ich richtig entschieden habe.»