Informatik ist auch Geschichte, Kultur und Gesellschaft

Informatik ist eine junge Wissenschaft, die auf alten Ideen aufbaut. Dieses Verständnis hat Friedemann Mattern über sieben Jahre lang in seiner Vorlesung Informatik II für Elektrotechnikstudierende gefördert. Mit seiner Emeritierung geht eine Ära zu Ende.

Professor Friedemann Mattern demonstriert einen Algorithmus an der Wandtafel
Algorithmen gibt es schon länger als Computer: Friedemann Mattern, Professor am Departement Informatik, zeigt einen Multiplikationsalgorithmus an der Wandtafel vor.

An einem Donnerstagmorgen im September schreibt Friedemann Mattern, Professor am Departement Informatik, die Zahlen 18 und 35 an die Wandtafel. Nach scheinbar willkürlichen Regeln verdoppelt, halbiert, streicht und addiert er die beiden, während ihm über 100 Studierende mit grossen Augen zuschauen. Am Ende steht da die Zahl 630 – das Produkt aus 18 und 35. Einige Studierende überprüfen das Ergebnis auf ihren Handys. Tatsächlich: Es stimmt.

Dieses wie ein Zaubertrick anmutende Multiplikationsverfahren ist ein Algorithmus. Seine Gültigkeit lässt sich mathematisch beweisen – und er ist wie gemacht für die Implementierung mit einem Computerprogramm; ein ideales Fallbeispiel, um Studierende der Elektrotechnik in die Vorlesung Informatik II einzuführen. Überraschend ist, dass das als «altägyptische Multiplikation» bekannte Verfahren bereits über 3500 Jahre alt ist. Friedemann Mattern will den Studierenden nicht nur die Grundsätze der Informatik, sondern auch den historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext dazu vermitteln. «Hinter vielen Grundprinzipien der Informatik stecken jahrhundertealte Ideen», sagt er.

Das Denken lehren

Die Vorlesung Informatik II ist ein Grundlagenfach aus dem dritten Semester des Bachelorstudiengangs Informationstechnologie und Elektrotechnik. Darin lernen angehende Elektroingenieurinnen und -ingenieure Grundkonzepte der Informatik und des Programmierens mit Java. Altägyptische Algorithmen stehen eigentlich nicht auf dem Lehrplan. Allerdings ist die Vorlesung seit 2013 Teil der Initiative «Critical Thinking ETH», die interdisziplinären Austausch, kritisches Denken und eigenverantwortliches Handeln fördert. «Ich habe seit jeher gelegentlich Bemerkungen zur Geschichte und zu den sozialen Wirkungen der Informatik gemacht. Als die Critical-Thinking-Initiative die Departemente dazu aufforderte, kritisches Denken in einige ausgewählte Vorlesungen einzubauen, meldete ich mich freiwillig», erinnert sich Friedemann Mattern.

Friedemann Mattern gibt eine Vorlesung
Professor Mattern hat in seinen Vorlesungen schon immer auf die Geschichte und die Wirkung der Informatik aufmerksam gemacht.

Wie kann man kritisches Denken überhaupt unterrichten? «Mit Auswendiglernen geht das nicht», sagt der Professor. «Es ist vielmehr ein Prozess, den man fördern kann, indem man die Studierenden mit unterschiedlichen Ideen und Denkweisen konfrontiert.» Ein hoher Anspruch an eine Vorlesung, die nur an zwei Stunden pro Woche stattfindet und von vielen Elektrotechnikstudierenden als Nebenfach betrachtet wird. Mattern wendet während dieser zwei Stunden denn auch nur wenige Minuten für den historischen und kulturellen Exkurs auf.

Das Herzstück der Vorlesung sind die Slides, die den Studierenden zum Selbststudium zur Verfügung stehen. Neben den Inhalten aus der Vorlesung sind darin fast 2000 farblich gekennzeichnete Bonusslides enthalten. Friedemann Mattern hat über die Jahre sorgfältig eine Fülle an Zusatzinformationen zusammengetragen, von der Herkunft und Bedeutung der Worte «Algorithmus» und «Informatik» über Portraits einflussreicher Mathematiker bis hin zu weiterführenden fachlichen Informationen, Anwendungsbeispielen und berühmten Programmierfehlern.

Die Bonusslides gehören nicht zum Prüfungsstoff – sie durchzulesen, ist für die Studierenden freiwillig. Wer will, kann sie mit einem Klick überspringen. Mattern ist sich bewusst, dass sich nur eine Minderheit der Studierenden damit beschäftigt. Der Aufwand lohnt sich für ihn trotzdem. «Als Dozierende müssen wir auch denjenigen Studierenden etwas bieten, die mehr leisten wollen oder können. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein mathematisches Genie handelt oder um jemanden, der sich einfach nur vertieft für das Fach interessiert», resümiert er.

Reversi-Turnier am Ende des Semesters
Seit jeher gehört zur Vorlesung Informatik II auch ein Programmierpraktikum, in dem Studierende freiwillig Spielagenten für das Brettspiel Reversi programmieren und sie am Ende des Semesters gegeneinander antreten lassen.

Dieses Engagement für die besonders interessierte Minderheit der Studierenden pflegt Friedemann Mattern auch abseits der Critical-Thinking-Initiative. So wird die Vorlesung Informatik II bereits seit vielen Jahren mit einem freiwilligen Programmierpraktikum ergänzt, in dem die Studierenden während des Semesters in kleinen Gruppen einen Agenten für das Brettspiel Reversi programmieren. Zum Semesterende treten diese virtuellen Spieler in einem kleinen Turnier gegeneinander an.

Zwischen Lob und Kritik

Über die Jahre erhielt Friedemann Mattern viele Rückmeldungen von den Studierenden, dankende wie auch kritische. «Einige reagieren verärgert auf den Zusatzstoff», sagt er. «Oft wurde auch nach einer Version der Slides ohne Zusatzmaterialien verlangt. Das ist, wie wenn man aus einem Lehrbuch alle Seiten herausreissen würde, die einen nicht interessieren.» Manchmal sorgen auch die Inhalte selbst für Aufregung. «Die historischen Bilder und Ausdrücke wirken aus heutiger Sicht schnell negativ oder diskriminierend», gibt Mattern zu. «Deswegen können wir aber nicht aufhören, über Geschichte zu reden. Ich will den Studierenden auch vermitteln, dass Werte und Moral nicht absolut sind, sondern sich mit der Zeit wandeln.» Sich mit anderen Wertvorstellungen als den eigenen auseinanderzusetzen, sei Teil des kritischen Denkens, erklärt er den Studierenden auf dem dreiseitigen Disclaimer, den er den Slides vorangestellt hat.

Studierende betrachten den Disclaimer in den Bonusslides während der Vorlesung
Der dreiseitige Disclaimer, der den Vorlesungsfolien vorangeht, macht Studierende darauf aufmerksam, dass historische Wertvorstellungen nicht immer den heutigen entsprechen.

Bei Matterns Hilfsassistierenden, die die Vorlesung vor ein paar Semestern selbst absolviert haben, gehen die Meinungen auseinander. «Ich fand die Bonusslides teilweise sehr spannend, aber es sind zu viele», sagt Pascal Schärli, Masterstudent im ersten Semester. Masterstudentin Julia Gygax hat sich beim Lernen zuhause nie mit dem Zusatzmaterial auseinandergesetzt. «Ich habe mich manchmal während der Vorlesung darin vertieft und dadurch verpasst, was Professor Mattern als Nächstes gesagt hat», sagt sie lachend. «Aber einige Fakten sind mir bestimmt geblieben.» Michael Roth, Bachelorstudent im fünften Semester und ebenfalls Hilfsassistent, konnte mit den Bonusslides wenig anfangen. «Während der Vorlesung waren sie amüsant, aber in der Lernphase ist keine Zeit für so etwas», sagt er. «Schliesslich müssen wir die Prüfung bestehen, das Interesse am Fach muss da leider in den Hintergrund rücken.»

Ganz anders empfand es Christelle Gloor, die mittlerweile am Departement Informatik doktoriert. «Die Bonusslides waren eine willkommene Abwechslung beim Lernen», sagt sie. «Sie geben einem den Kontext, warum das, was man lernt, wichtig ist, und welche Auswirkungen es in der realen Welt haben kann.» Dieses Interesse verfolgt die Doktorandin auch in der Freizeit, etwa indem sie Bücher liest, die von Dozierenden wie Friedemann Mattern empfohlen werden. «Ich finde das bereichernd – und der Stoff gibt etwas her als Conversation Starter für Partys», scherzt sie.

Doch keine Zeit, um kritisch zu denken?

Kontextwissen ist gerade in der Informatik essenziell, ist Mattern überzeugt. «Technik hat die Gesellschaft schon immer verändert. Die Informatik betrifft aber heute jede und jeden von uns unmittelbar. Wir tragen unsere Smartphones ständig bei uns, die Globalisierung wäre ohne die Informatik nicht denkbar und Themen aus der Informatik werden in der Gesellschaft heute breit diskutiert, häufig losgelöst vom fachlichen Kontext.»

«Die Informatik betrifft jede und jeden von uns unmittelbar.»Prof. em. Friedemann Mattern

Dennoch hat der Professor auch Verständnis für die kritische Einstellung vieler Studierenden. «Ich glaube fest, dass es die Aufgabe der Hochschulen ist, mehr als nur Fachwissen zu vermitteln», sagt er. «Aber das steht in einem klaren Widerstreit zum Fachwissen, das immer umfangreicher wird.» Das heutige Hochschulstudium sei zunehmend von einem Wettbewerb geprägt – um Noten, ums Bestehen der Prüfungen, um gute Arbeitsstellen. «Daher bleibt das Ziel, das sich die Critical-Thinking-Initiative gesetzt hat, eine Idealvorstellung, die kaum erreicht werden kann», gibt er zu bedenken. «Dennoch kann und soll man versuchen, diesem Ideal näherzukommen.»

Sein eigenes Interesse für den grösseren Kontext der Dinge trägt der 65-jährige Professor bereits seit seiner Kindheit in sich. Die Schule trug viel dazu bei, sein Denken zu fördern und es zu schärfen. Davon habe er sein ganzes Leben profitiert, ist er überzeugt, sowohl privat als auch beruflich. Umso mehr freut es ihn, wenn er positive Rückmeldungen zu seinen Vorlesungen und zu den Bonusslides bekommt. «Es ist ein grosser Aufwand für eine kleine Minderheit, aber ich würde alles nochmal so machen», sagt er.

Studierende schauen Friedemann Mattern aufmerksam zu
Ob kritisch eingestellt oder nicht, die Demonstration der altägyptischen Multiplikation zieht Studierende in ihren Bann.

Ende Juli 2020 wurde Professor Friedemann Mattern emeritiert. Die Vorlesung Informatik II hat er im Herbstsemester 2020 zum letzten Mal abgehalten. Wer in seine Fussstapfen treten wird, ist noch unklar. Der Critical-Thinking-Teil wird aber wohl nicht mehr weitergeführt. Zu gross ist der Zusatzaufwand. Mattern nimmt das mit einer gewissen Gelassenheit hin. «Natürlich bedaure ich, dass sich die Vorlesung verändert. Aber jetzt müssen andere Leute mit einem frischen Blick an diese Themen herangehen.»

Viel mehr bedauert der Professor, dass die Pandemie die letzte Durchführung der Vorlesung erschwert hat. «Ich hätte sie gerne noch ein letztes Mal verbessert, so wie ich das über die Jahre getan habe», sagt er. Stattdessen musste er einige Teile davon stark reduzieren. Wenigstens konnte rund die Hälfte der Studierenden vor Ort im Hörsaal Zeuge sein, wie durch einen auf den ersten Blick bizarren Algorithmus zwei natürliche Zahlen miteinander multipliziert werden können. Leider musste wenig später auch die Informatik II – gemeinsam mit allen anderen Vorlesungen der ETH Zürich – in den Onlinebetrieb wechseln.

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