Eine neue Wissenschaft erkämpft sich ihren Platz

Vor 40 Jahren lancierte die ETH Zürich den Studiengang der Informatik. Die Geschichte der Informatik an der ETH begann aber bereits früher. Unser emeritierter Professor Carl August Zehnder erzählt, wie er und die anderen Begründer des Departements um einen eigenen Studiengang kämpften.

Prof. Emeritus Carl August Zehnder
Carl August Zehnder war Informatik Professor an der ETH Zürich von 1979 bis 2003.

In der Schweiz arbeiteten um 1970 bereits Zehntausende in Berufen rund um den Computer. Das waren zumeist Quereinsteiger, die sich aus Interesse an einem neuen, zukunftsträchtigen Gebiet beruflich umorientiert hatten. Sie hatten zum Teil eine Hochschulbildung als Mathematiker, Ingenieur oder Betriebswirtschaftler. Über ein Jahrzehnt und vier Anläufe (1973, 1977, 1979, 1980/81) waren nötig, bis sich die ETH Zürich zur Schaffung eines eigenen Studiengangs Informatik durchrang.

 

Die Stunde der Pioniere

1948 wurde an der ETH Zürich unter der Leitung von Prof. Eduard Stiefel das Institut für Angewandte Mathematik gegründet. Dieses knüpfte einerseits Kontakte in die USA und setzte andererseits mit der Z4 von Konrad Zuse von 1950 bis 1955 als erste kontinentaleuropäische Hochschule einen programmierbaren Rechenautomaten ein. Schon im Studienjahr 1952/53 wurde im Vorlesungsverzeichnis ein Kurs über "Programmierung mit Übungen am Rechengerät" angekündigt. 1968, also 20 Jahre nach der Institutsgründung, hatten sich diese Gebiete erfolgreich so weit entwickelt, dass sich eine Trennung der Computerthemen von der angewandten Mathematik aufdrängte und eine selbstständige Fachgruppe für Computerwissenschaften gebildet wurde. Ihr gehörten die Professoren Heinz Rutishauser, Peter Läuchli und Niklaus Wirth an, ab 1970 auch Carl August Zehnder. Der frühe Tod von Heinz Rutishauser im November 1970 schwächte die Gruppe vorerst empfindlich. Die Neuberufungen von Erwin Engeler 1972 und Jürg Nievergelt 1975 brachten angesichts wachsender Dienstleistungsaufgaben schrittweise Verstärkung. Diese Informatikprofessoren waren die Promotoren der hier geschilderten Bemühungen, die schliesslich 1981 zur Schaffung eines eigenen Diplomstudiums für Informatikingenieure führte.

Vision und Ahnungslosigkeit

In den USA und in England waren seit 1965 Computer Science, in Frankreich und Deutschland seit 1969/70 Informatik reguläre Universitätsstudiengänge. Da kam den ETH-Informatikern eine gross angelegte Umfrage des Schweizerischen Wissenschaftsrates im Mai 1970 gerade recht, in der alle Wissenschaftsdisziplinen zu Planungsüberlegungen aufgefordert wurden. Diesem Umfragematerial lag eine "Wegleitende Liste der Disziplinen und Forschungszweige" (Tabelle 1) mit der ausdrücklichen Einladung zu Ergänzungen und Kommentaren bei. Die Liste zeigte sehr klar, dass die damaligen obersten Wissenschaftsorgane der Schweiz weder die Bedeutung der Informatik erkannt noch deren Kerngebiete verstanden hatten. So fanden sich zwar unter der Disziplin "Mathematik" eine ganze Reihe computernaher Begriffe wie beispielsweise fünf Mal der Ausdruck "Programmierung". Er war aber zum Teil unverständlich zugeordnet, schlicht unverstanden oder gar falsch. Die für die Informatik zentralen Begriffe "Programmierung digitaler Rechenanlagen" und "Software" fehlten vollständig.

An der ETH Zürich bildete der Fachbereich Mathematik mit damals insgesamt 25 Professoren 1970 die Heimat auch für die Informatik mit vier Professoren. Diese reagierten auf die Liste mit einem Gegenvorschlag (Tabelle 2), der die Informatik auf die Stufe einer eigenen Disziplin hob und damit neben die Mathematik stellte. Es lag jedoch nahe, einen Weg zum Informatikstudium vorerst über eine blosse Anpassung des Studienplans für Mathematik zu versuchen. Zu Beginn der 1970er-Jahre stand eine grössere Revision des Studienplans von 1962 an, von der die Informatiker zu profitieren hofften. Sie arbeiteten 1973 mit Nachdruck an der Erweiterung der Nebenfachmöglichkeiten im Mathematikstudium, also der Ersetzung des bisher obligatorischen Nebenfachs Theoretische Physik durch ein gleichwertiges Nebenfach Informatik, aber ohne Erfolg. Schon der Fachbereich Mathematik lehnte dies definitiv ab. Trotzdem wurde dieses Konzept im Fachbereich Mathematik 1977 erneut eingebracht und jetzt völlig überraschend angenommen, weil sich nun eine andere Gruppe von Professoren innerhalb der Mathematik diesem Vorgehen anschloss und gleich noch eine dritte Nebenfachwahlmöglichkeit, nämlich Stochastik, beantragte. Das Eis für die Öffnung der bisher starren Nebenfachregelung war jetzt offensichtlich gebrochen. Die Mathematiker stimmten der Wahlfreiheit unter drei offiziellen Nebenfächern, den nun Kernwahlfächer genannten Fächergruppen Theoretische Physik, Informatik und Stochastik zu, was anschliessend von allen zuständigen Instanzen bestätigt wurde.

Der dritte Anlauf

Als Niklaus Wirth und Carl August Zehnder 1979 Heinrich Ursprung, dem Präsidenten der ETH Zürich, ihr Anliegen vortrugen, baldmöglichst einen eigenen Diplomstudiengang Informatik zu schaffen, schlug ihnen dieser vor, ihr Anliegen in einer Vernehmlassungsumfrage den 13 Abteilungen und den vier Ständen zu unterbreiten. Dabei sollte zugleich die Frage der Neugründung einer eigenen Abteilung abgeklärt werden. Die Resultate der Umfrage waren sensationell. Alle Abteilungen mit Ausnahme der Architekten und drei von vier Ständen stimmten der Schaffung eines eigenen Diplomstudiengangs Informatik zu. Die Schaffung einer Abteilung für Informatik lehnten sie hingegen alle ab.

Das geplante Informatikstudium sollte ein theoriestarkes, aber auch konstruktiv orientiertes Ingenieurstudium werden. Sein Programm sollte auf den klassischen Grundlagenfächern basieren, also viel Mathematik, dazu Physik, aber auch Elektrotechnik und selbstverständlich genügend Informatik enthalten. Der neue Studiengang benötigte eine zusätzliche Assistentenstelle pro elf zusätzliche Studierende. Die zu diesem Zeitpunkt verfügbaren fünf Professoren für Informatik erklärten sich bereit, während beschränkter Zeit sich voll auf die Lehre zu konzentrieren und ihre persönliche Lehrleistung in dieser Zeit zu verdoppeln. Damit könnten sie den Informatikunterricht für alle vier Studienjahre des neuen Studiengangs selber voll abdecken. Neue Professuren müssten erst geschaffen werden, wenn die Entwicklung der Studentenzahlen dies rechtfertigt. Diese Argumente überzeugten ETH-Präsident Ursprung. Sie zeigten bescheidene Ansprüche und eine grosse Bereitschaft der Informatiker, zuerst Eigenleistungen zu erbringen und dann hinterher und erfolgsabhängig Anpassungen bei der Mittelzuteilung zu verlangen. Präsident Ursprung unterstützte nun auch die eigene Abteilung.

Das neue Diplomstudienangebot wird umgesetzt

Noch in den wenigen Wochen vor Weihnachten 1980 wurde durch einen ad-hoc-Abteilungsrat der neue Studienplan erarbeitet. Die Zusammenstellung eines vollständig neuen Lehrplans über vier volle Studienjahre mit Konzeptanleihen aus verschiedenen Disziplinen und einer grösseren Anzahl neuer oder stark umgestalteter Lehrveranstaltungen barg selbstverständlich auch Risiken. War es zumutbar, dass die Studierenden des ersten Studienjahrgangs acht Semester lang als Versuchskaninchen dienten? Würde das nicht sogar abschreckend wirken? Um diese Probleme zu entschärfen, aber auch um möglichst rasch erste Diplome für Informatikingenieure ausstellen und damit auf dem Arbeitsmarkt sichtbar auftreten zu können, wurde auf den Eröffnungszeitpunkt im Herbst 1981 zusätzlich ein Zwischeneinstieg ins fünfte Semester eingerichtet. Eine Übergangsregelung bot für die kommenden drei Jahre die Möglichkeit, dass Studierende der ETH Zürich nach bestandenem zweitem Vordiplom einer beliebigen Fachrichtung prüfungsfrei ins fünfte Semester des neuen Studiengangs Informatik eintreten konnten. Damit stand zu Jahresbeginn 1981 das Konzept für den neuen Studiengang. Jetzt begann aber ein Wettlauf gegen die Zeit für die Eröffnung im Herbst 1981 im ersten und auch im fünften Semester. Dazu mussten jetzt die zuständigen Gremien – Schulleitung, Schulrat, Bundesrat – die notwendigen Regelungen – Studienplan, Diplomprüfungsreglement, Änderung des ETH-Reglements – formell beschliessen, was auch bei bestem Willen aller Beteiligten mehrere Monate erforderte. Parallel dazu waren weitere Absprachen nötig, beispielsweise die offizielle Positionierung der neuen Abteilung innerhalb der ETH Zürich mittels der Nummer IIIC, womit bewusst die Nähe zu anderen Ingenieurabteilungen betont werden sollte. Parallel zu diesen internen Schritten galt es, extern alle Schweizer Maturanden des Frühjahrs 1981 auf den neuen Studiengang aufmerksam zu machen, und zwar lange vor dem erst im Juni zu erwartenden Zustimmungsentscheid des Bundesrates; im Herbst traten dann 110 davon ins erste Semester ein. ETH-intern wurde im Sommersemester 1981 über die Übertrittsmöglichkeit ins fünfte Semester des neuen Studiengangs orientiert; 23 nutzten diese Möglichkeit (und 20 von diesen wurden 1984 als erste ETH-Informatikingenieure diplomiert). Es gelang somit, alle Vorbereitungen rechtzeitig zu beenden. Anfangs Juli 1981 konnte das damalige Institut für Informatik deren Abschluss und die erfolgte Zustimmung des Bundesrates mit einer gemeinsamen Schiffsrundfahrt auf dem Zürichsee feiern.

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