«Das ist fast wie eine Droge»
Patrice Becker begeisterte sich schon als Kind für die Informatik. Ihn faszinierte die Vorstellung, mit nur einem Laptop und Programmierkenntnissen ausgerüstet die ganze Welt erreichen zu können. An der ETH Zürich kombiniert der Informatikstudent heute erfolgreich Studium und Unternehmertum.
Eine App zu programmieren ist für viele Informatikstudierende nichts Ungewöhnliches. Eher selten ist es hingegen, daraufhin E-Mails von Investoren aus Silicon Valley sowie sechsstellige Kaufangebote zu erhalten. So erging es Patrice Becker, Bachelorstudent im sechsten Semester, mit seiner App Meeter.
Ursprünglich entstand Meeter für den Eigengebrauch. «Als der Lockdown begann, hatten wir viele Onlinevorlesungen und Meetings auf verschiedenen Plattformen», erinnert sich Becker. Das Einloggen empfand er als umständlich: Kalender öffnen, Event anklicken, Link zum Meeting in den Notizen finden. Gemeinsam mit einem Freund, der am Imperial College in London Informatik studiert, baute Becker in wenigen Tagen Meeter, eine App, die Meeting-Links automatisch aus dem Kalender filtert und übersichtlich darstellt.
Becker wuchs in Frankfurt auf und interessierte sich schon als Kind für Informatik. Sein Vater, der selbst bei IBM arbeitet, sah seinen Sohn eher in einem kreativen Beruf. «Als mir mein Vater sagte, ich solle nicht Informatik machen, wollte ich es natürlich erst recht», schmunzelt Becker. Am Gymnasium wählte er Informatik als Leistungskurs. Die Theorie fand er interessant, am meisten begeisterte ihn aber die Praxis. Seit Becker 13 Jahre alt war, nahm er an Hackathons teil. Das Programmieren brachte er sich dabei grösstenteils selbst bei. «Wenn man an einem Hackathon-Projekt arbeitet und noch nicht so gut programmieren kann oder die Programmiersprache nicht beherrscht, muss man währenddessen Dinge nachschauen», erzählt er. «So habe ich bei jedem Projekt dazugelernt.»
Hackathons mag Becker immer noch – einfach ohne den formellen Rahmen. «Leonhard Soenke, mit dem ich auch Meeter programmiert habe, und ich machen regelmässig ‹Hackathons›, wo wir zu zweit für ein paar Tage intensiv an einem Projekt arbeiten», sagt Becker. «Wenn man wenig Zeit hat, ist man gezwungen, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Das gefällt uns.»
Mit Informatik Menschen erreichen
In einem solchen «Hackathon» entstand auch Meeter. Mit dem Gedanken, dass die App während des Lockdowns vielleicht auch für andere nützlich sein könnte, veröffentlichte Becker den Link dazu auf Twitter und Reddit und ging nichtsahnend schlafen. «Am nächsten Morgen hatte ich Hunderte von Benachrichtigungen auf meinem Handy», erinnert er sich. «Innerhalb eines Tages wurde die App 20’000-mal heruntergeladen. Wir hätten uns schon über 100 Downloads gefreut.» Mittlerweile hat Meeter über 120’000 Downloads.
Sich auf ihren Lorbeeren ausruhen konnten die beiden Studenten jedoch nicht, ganz im Gegenteil. «In der ersten Woche, nachdem Meeter viral gegangen ist, habe ich vielleicht 20 Stunden geschlafen», sagt Becker. Die App war noch in einem frühen Entwicklungsstadium, lief instabil auf älteren Geräten und wurde vor der Veröffentlichung nur wenig getestet. «Ich habe im Kurs Rigorous Software Engineering an der ETH Zürich viel über das Testen von Software gelernt. Aber ich dachte, das sei bei den ersten Versionen der App nicht so wichtig», gibt Becker zu. Nachdem die beiden Studenten die ersten zwei Wochen nach der Veröffentlichung mit Bug Fixes verbracht hatten, implementierten sie einen gründlichen Testprozess. Später holte das kleine Team Verstärkung: Mohammed Khouni, der Maschinenbau an der ETH Zürich studiert.
«Als Informatiker kann ich mich mit meinem Laptop irgendwo hinsetzen und etwas schaffen, das überall auf der Welt sofort erhältlich ist und hunderttausende von Nutzern hat. Das ist genial!»Patrice Becker
Um möglichst viele Menschen zu erreichen, haben Becker, Khouni und Soenke Meeter lange gratis zur Verfügung gestellt. Erst seit Kurzem ist eine bezahlte Version verfügbar. Dass sie nichts daran verdienten, hat ihrer Motivation keinen Abbruch getan. «Wir haben hunderte von E-Mails bekommen von Leuten, die sich für die App bedankt haben, aus Russland, aus China, aus Australien», sagt Becker. «Den Menschen etwas zu geben, das sie nützlich finden, ist ein tolles Gefühl – fast wie eine Droge.» Die Möglichkeit, relativ einfach viele Menschen zu erreichen, begeistert ihn an der Informatik. «Wenn ich ein Auto bauen möchte, brauche ich eine Fabrik, Materialien, Arbeiter, sehr viel Expertise und Zeit», vergleicht er. «In der Informatik kann ich mich mit meinem Laptop irgendwo hinsetzen und etwas schaffen, das überall auf der Welt sofort erhältlich ist und hunderttausende von Nutzern hat. Das ist genial!»
Studium und Arbeit im Gleichgewicht
Um seiner Leidenschaft für die Informatik eine solide theoretische Basis zu verleihen, suchte Becker nach dem Abitur nach einem geeigneten Studienplatz. «Mit ihrem weltweiten Ruf war die ETH Zürich schon früh oben auf meiner Liste», sagt er. Er bestand die strenge Aufnahmeprüfung und zog in die Schweiz. Bis auf einen kleinen Schock über die Lebenskosten fiel ihm das Einleben im Nachbarland leicht. Mittlerweile finanziert sich Becker das Studium selbst, mit seinen Projekten sowie mit einem Fern-Nebenjob als Data Scientist beim kanadischen Unternehmen Searidge Technologies, das sich auf Automatisierung von Flugverkehrskontrollen spezialisiert.
Zeit- oder Organisationsprobleme kennt Becker trotz hoher Auslastung nicht. «Klar arbeite ich viel, aber ich kann mein Studium, meine Projekte und den Nebenjob gut priorisieren», erklärt er. So fokussiert er sich in der Prüfungszeit komplett auf das Studium, während des Semesters findet er auch mal Zeit für ein Projekt. «Meine Projekte motivieren mich fürs Studium», sagt Becker. «Es ist viel interessanter, wenn ich das Gelernte direkt anwenden kann.» Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen, auch wenn er sich nicht allzu fest einschränken will: «Ich mag es, die Wahl zu haben, woran ich gerade arbeiten möchte», sagt er.
Beckers «Portfolio» umfasst verschiedenste Apps und Start-ups und widerspiegelt seinen Hang zur Abwechslung. Vor Meeter arbeitete er an einer anderen Kommunikations-App sowie an einer Bezahl-App. Bereits als Schüler gründete er ein Unternehmen mit, das Kunden hilft, Rückerstattungen von Airlines zu erhalten. Manche Projekte sind gewinnbringend, anderen widmet sich Becker pro bono. Dazu gehört ein mehrjähriges Projekt, welches zuverlässige neurologische Tests zur Erkennung von Demenz mit dem Smartphone ermöglichen will, sowie die App externe Seite «Welcome to NRW», die Flüchtlingen die Orientierung im Bundesland Nordrhein-Westfalen erleichtert. Diese entwickelte Becker noch als Schüler im Rahmen eines Hackathons mit. «Ich wollte helfen und dachte darüber nach, wie ich die grösste Wirkung erzielen könnte», sagt er. «Ich hätte in einem Flüchtlingsheim aushelfen können, dann hätte ich vielleicht einem Dutzend Leute geholfen. Oder aber ich würde meine Informatikkenntnisse anwenden und damit Hunderte oder sogar Tausende unterstützen. Es hat mich sehr gefreut, dass das Bundesland unser Projekt übernommen und am Leben erhalten hat.»
«Meine Projekte motivieren mich fürs Studium. Es ist viel interessanter, wenn ich das Gelernte direkt anwenden kann.»Patrice Becker
An der ETH Zürich fühlt sich der unternehmerische Student wohl. «Ich würde mir einzig etwas längere Sommerferien wünschen», sagt er. «Ein ETH-Studium ist sehr fordernd, was ich gut finde. Aber man hat nicht ganz so viel Zeit, um an eigenen Projekten zu arbeiten. Viele grosse Tech-Start-ups aus den USA sind während der vorlesungsfreien Zeit entstanden. Das könnte man an der ETH noch etwas mehr fördern.»
Die richtige Idee
Nach der intensiven Arbeit an Meeter steht für Becker als Nächstes die nicht minder intensive Prüfungsphase an. Danach fehlen ihm nur noch wenige Kreditpunkte für den Bachelorabschluss. «Wahrscheinlich werde ich im siebten Semester Bachelor- und Masterkurse gleichzeitig belegen», sagt er. Obwohl er im Bereich Data Science arbeitet, hat er sich für einen Master in Informatik mit Vertiefung in Machine Intelligence entschieden. «So bin ich flexibler in der Fächerauswahl als beim Data Science Master», erklärt er. «Ich möchte auch Fächer belegen, die für meine Appentwicklungsprojekte und eventuell für ein Start-up Relevanz haben.»
Ein eigenes Start-up zu führen ist nämlich Beckers Ziel nach dem Studium. Und Meeter? «Meeter war als eine kleine App geplant», sagt er. «Wir werden sie weiterentwickeln und verkaufen. Das Geld und das Wissen, das wir dadurch gewonnen haben, investieren wir in ein zukünftiges Projekt.» Welches Projekt das sein könnte, weiss Becker heute noch nicht. An Ideen hat es ihm allerdings nie gemangelt.