«Der grösste Erfolg wäre, wenn das Center in etwas Grösserem aufgehen würde»
23.06.2020 | Anna Ettlin
Das Max Planck ETH Center for Learning Systems (CLS) ist das erste gemeinsame Forschungszentrum der ETH Zürich und der deutschen Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Im Mai 2020 hat es sein fünfjähriges Bestehen gefeiert und wurde für weitere fünf Jahre verlängert. Professor Thomas Hofmann, Co-Direktor des Centers, zieht Bilanz, blickt in die Zukunft und erklärt, warum man beim Thema künstliche Intelligenz über die Landesgrenzen hinausdenken muss.
Professor Hofmann, das Max Planck ETH Center for Learning Systems hat die ersten fünf Jahre hinter sich. Sind Sie mit der Entwicklung des Centers in dieser ersten Phase zufrieden?
Ja, das Center ist sehr aktiv und weckt viel Interesse in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit. Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz sind heute in aller Munde. Als das CLS vor fünf Jahren gegründet wurde, war das Potenzial dieser Technologien bei der allgemeinen Bevölkerung kaum bekannt. Insofern war das Center seiner Zeit um ein paar Jahre voraus.
In einem Arbeitsgespräch mit Bundesrat Guy Parmelin sprach Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, das Center for Learning Systems an. Er sagte, eine noch engere Zusammenarbeit in der Forschung würde für beide Seiten von grossem Nutzen sein. Wie profitieren die ETH Zürich und die Max-Planck-Gesellschaft vom Center?
Das CLS gibt uns die Chance, internationale Talente zu gewinnen. Die Tätigkeit am Center ist attraktiv für Doktorierende und Postdocs, weil das CLS mehr Freiheiten und mehr kritische Masse bietet als eine Forschungsgruppe. Einen grossen Mehrwert schafft auch der personelle Austausch. Selbst innerhalb der ETH Zürich sind durch das CLS Kooperationen zwischen Forschenden verschiedener Departemente entstanden, die sich an der ETH selten begegnet wären. Und schliesslich steigert das CLS die Bekanntheit und die Reputation unserer Institutionen. Sowohl die ETH Zürich als auch das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme geniessen bereits ein hervorragendes internationales Ansehen. Durch die Zusammenarbeit stärken wir es zusätzlich, insbesondere im Kampf um Talente, wo wir mit Industriegiganten wie Google und Amazon konkurrieren.
«Selbst innerhalb der ETH Zürich sind durch das CLS Kooperationen zwischen Forschenden entstanden, die sich an der ETH selten begegnet wären.»Prof. Thomas Hofmann
Gemeinsam mit Professor Bernhard Schölkopf sind Sie Co-Direktor des CLS. Was ist Ihre Rolle?
Nach der Gründung des CLS galt es, die operativen Rahmenbedingungen festzulegen, die wissenschaftliche Agenda voranzutreiben, die Zusammenarbeit zu fördern und eine Community von Forschenden aufzubauen. Meine Aufgabe war es auch, das heterogene Umfeld der ETH Zürich in diese Kooperation einzubinden. Während das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme eine organisatorische Einheit ist, sind seitens der ETH verschiedene Departemente beteiligt: Informatik, Informationstechnologie und Elektrotechnik, Maschinenbau, Mathematik und mehr. Schliesslich haben wir die strategische Ausrichtung des Centers in Europa definiert und uns um junge Talente für unser Doktoratsprogramm bemüht. Dafür haben wir ein zentralisiertes Auswahlverfahren mit strengen Qualitätsauflagen entwickelt.
Konnte das Center bereits zur Forschung beitragen?
Wir arbeiten nicht an einem zentralen Forschungsvorhaben, sondern verfolgen eine Vielzahl von Forschungsfragen. Da es unser Ziel ist, die ETH Zürich und das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme zu vernetzen, messen wir unseren Erfolg unter anderem an der Anzahl gemeinsamer hochkarätiger wissenschaftlicher Publikationen. Es sind bereits zahlreiche Publikationen entstanden, in den Bereichen von Robotik und maschinellem Sehen bis hin zu Kausalität und theoretischer Grundlagenforschung, an der ich auch selbst arbeite.
«Unsere Grundlagenforschung bringt nicht erst in ferner Zukunft einen Nutzen – wir beantworten drängende Fragen, die sich heute stellen.»Prof. Thomas Hofmann
Bei Themen wie Robotik liegt der potenzielle Nutzen auf der Hand. Welchen Nutzen bringt die theoretische Grundlagenforschung?
Eines der grossen Probleme im maschinellen Lernen ist, dass wir diese gigantischen Modelle mit riesigen Datenmengen für verschiedenste Aufgaben trainieren können, dabei aber nicht ausreichend verstehen, wie und warum sie funktionieren. So bilden Modelle oft nicht die kausalen Zusammenhänge in der Welt ab, sondern machen Vorhersagen basierend auf Beobachtungsdaten und den darin enthaltenen statistischen Korrelationen und Abhängigkeiten. Um unsere Modelle übertragbarer, zuverlässiger und transparenter zu machen, müssen aber kausale Zusammenhänge Berücksichtigung finden.
Diese theoretischen Fragestellungen sind gleichzeitig sehr praxisrelevant. Unsere Grundlagenforschung bringt nicht erst in ferner Zukunft einen Nutzen – wir beantworten drängende Fragen, die sich heute stellen. Hier besteht auch eine gewisse Arbeitsteilung zwischen der akademischen Forschung und der Industrie. Wir können nicht mit grossen Unternehmen mithalten, die diese Modelle für eine Vielzahl an kommerziellen Anwendungen einsetzen. Aber wir können die Grundlagen für bessere Modelle schaffen.
Was werden die nächsten fünf Jahre bringen?
Natürlich wollen wir unsere Forschung, das Doktoratsprogramm und die Öffentlichkeitsarbeit fortsetzen. Neu wollen wir auch Masterstudierenden ermöglichen, am Center zu forschen. Gleichzeitig soll das CLS zu einer Keimzelle für ein europäisches Netzwerk von Forschenden werden, auch über die nächsten fünf Jahre hinaus. Heute ist das Feld der künstlichen Intelligenz mit hohen Erwartungen seitens der Politik und der Öffentlichkeit konfrontiert. Zahlreiche Länder haben nationale Forschungsinitiativen gestartet. Die Forschung in Europa muss sich organisieren und zusammenschliessen, was Zeit braucht. Da das CLS sehr früh gestartet ist, sind wir bereits in Betrieb und können nun organisch wachsen. Von unseren Erfahrungen profitieren auch andere Initiativen, wie zum Beispiel das ETH-eigene Center for Artificial Intelligence, das sich gerade in der Gründung befindet, oder auch das European Laboratory for Learning and Intelligent Systems (ELLIS), welches europaweit Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vernetzt.
«Wenn die europäischen Länder nicht über ihre Grenzen hinausdenken, können sie wenig erreichen.»Prof. Thomas Hofmann
Wäre es nicht besser, von Anfang an alle Kräfte in einer grossen Institution zu bündeln, anstatt so viele verschiedene Center und Netzwerke zu gründen?
Es ist in der Tat unser «Geheimplan», die Aktivitäten dieser Institutionen zusammenzuführen, beispielsweise in einem europaweiten ELLIS-Institut, dem auch das CLS und das ETH Center for Artificial Intelligence angehören könnten. Der grösste bleibende Erfolg wäre für mich, wenn das Center in etwas Grösserem aufgehen würde. Es ist allerdings schwierig, ein grosses Institut aus dem Nichts zu schaffen. Deshalb nähern wir uns über verschiedene kleinere Initiativen langsam an.
Braucht die Schweiz eine nationale KI-Initiative?
Anstatt ein nationales Center zu gründen, sollten wir bestehende KI-Exzellenzzentren bündeln und damit zu einem gesamteuropäischen Netzwerk beitragen. Auf diesem Gebiet sind auch grosse globale Player wie die USA und China unterwegs. Wenn die europäischen Länder nicht über ihre Grenzen hinausdenken, können sie wenig erreichen. Stellt man hingegen die Schweizer Kompetenz in einen europäischen Zusammenhang, kann die Schweiz nicht nur sehr viel beitragen, sondern auch globale Sichtbarkeit und grossen Einfluss in Europa gewinnen.
Max Planck ETH Center for Learning Systems
Das Max Planck ETH Center for Learning Systems (CLS) entstand aus der Zusammenarbeit der ETH Zürich und des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme in Tübingen. Es ist das erste gemeinsame Center der ETH Zürich und der Max-Planck-Gesellschaft. Seit seiner Gründung 2015 ist es das Ziel des CLS, Forschende auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz und der lernenden Systeme zu vernetzen, Grundlagenforschung zu fördern und Doktorierende auszubilden.
Das Center wird von den Co-Direktoren Thomas Hofmann (ETH Zürich) und Bernhard Schölkopf (Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme) geleitet. Zu den Mitgliedern zählen etliche Professorinnen und Professoren des Departements Informatik, darunter Joachim Buhmann, Gunnar Rätsch und Andreas Krause, sowie zahlreiche weitere Professorinnen und Professoren, Postdocs und Doktorierende aus unterschiedlichen Departementen der ETH Zürich.