Lasst die Frauen programmieren!
26.07.2019 | Anna Ettlin
Als Informatikerin hat Julia Chatain viele bewusste und unbewusste Vorurteile erfahren. Mit ihrer Arbeit am Game Technology Center der ETH Zürich will sie solche Vorurteile für zukünftige Generationen widerlegen und allen – nicht zuletzt den Frauen selbst – zeigen: Ja, Frauen können programmieren!
Als Julia Chatain beschloss, Informatik zu studieren, sagte ihr ein Mitschüler unverblümt, dass es nichts für Frauen sei. Sie ignorierte den Kommentar – den ersten von vielen. Aufgewachsen in Tours, Frankreich, liebte sie es, Mathematik von ihrer Mutter zu lernen, die selbst Informatikerin ist. «Die Informatik schafft eine Verbindung zwischen Mensch und Mathematik», sagt Chatain. «Es war das Einzige, was ich tun wollte!» Also studierte sie Informatik an der renommierten École polytechnique in Frankreich. Obwohl ihre Leidenschaft für ihr Fach nie nachliess, fiel ihr das Studium in der traditionellen, männerdominierten Umgebung der École polytechnique mit ihrer militärischen Geschichte nicht einfach. «Wenn ich mich zu feminin gab, betrachtete man mich als inkompetent. Wenn ich nicht feminin genug war, nannte man mich bei einem Männernamen», erinnert sich Chatain. «Ein solcher Konflikt ist sehr schwer zu balancieren, wenn man jung ist und seine eigene Identität noch entdeckt.»
Trotz dieser Schwierigkeiten erwarb Julia Chatain das Diplôme d'Ingénieur, gefolgt von einem Masterabschluss an der EPFL. Heute arbeitet sie am Game Technology Center (GTC) der ETH Zürich, in einer viel offeneren und inklusiveren Umgebung. Aber sie ist sich bewusst, dass andere Frauen noch immer mit Vorurteilen zu kämpfen haben. «Ich habe mit vielen jungen Frauen gesprochen, die neugierig auf die Informatik und aufs Programmieren waren, denen man aber gesagt hatte, es sei nichts für sie», sagt sie. Vorbilder gibt es nur wenige – Chatain selbst war bereits 25 Jahre alt, als sie zum ersten Mal eine andere Informatikerin als ihre Mutter traf. «Es ist wichtig, dass Frauen, die bereits im Berufsleben stehen, Kontakt zur nächsten Generation suchen und sagen: Ja, Frauen können Informatik!», sagt Chatain. Da die Vermittlungsarbeit ein wichtiger Teil der GTC-Mission ist, hat sie sich entschlossen, genau das zu tun – mithilfe eines Augmented-Reality-Workshops, in dem Menschen jeden Alters und Geschlechts durch ein Spiel erstmals das Programmieren erleben können.
Ein Spiel für alle
Julia Chatain und das GTC-Team entwickelten das Spiel, das sie «AR’n’B» nennen, ursprünglich für Workshops mit Schulklassen, die während der Informatiktage in Zürich im März 2019 stattfanden. Um die Attraktivität der Workshops für alle Geschlechter zu gewährleisten, entschied sich Chatain für ein Musikspiel: Farbige Blöcke erscheinen im Takt mit der Musik auf dem Bildschirm und müssen mit speziellen Markern eingefangen werden, die man in den Händen hält oder an den Handflächen befestigt. Das Grundspiel wurde von Chatain und dem GTC-Team geschrieben; die Kinder und Jugendlichen lernten im Workshop, wie sie ihre eigenen Level dafür programmieren können.
«Die Informatik ist heute allgegenwärtig. Es ist daher wichtig, dass junge Menschen schon früh eine erste Vorstellung davon bekommen», sagt Chatain. «Videospiele sind ein guter Anreiz, genau das zu tun, besonders Augmented-Reality-Spiele.» Augmented Reality (AR), auf Deutsch erweiterte Realität, vereint die digitale und die physische Welt zu einem ganzheitlichen Erlebnis und ermöglicht eine natürlichere Interaktion mit digitalen Elementen als per Knopfdruck. Das fasziniert Julia Chatain, die gerade erst mit ihrer Doktorarbeit zum Thema Augmented-Reality-Spiele für Bildungszwecke begonnen hat. «Andere Informatiker denken manchmal, dass wir den ganzen Tag mit Gamen verbringen und unsere Arbeit sich irgendwie von alleine macht», lacht sie. «Nur weil Games Spass machen zum Spielen, heisst das nicht, dass sie einfach zu programmieren sind.»
Unbegrenzte Möglichkeiten
Chatains Faszination für Computerspiele und das Programmieren begann in ihrer Kindheit in Tours. «Als mein Bruder und ich aufwuchsen, durften wir keine Videospiele spielen. Also haben wir den Computer unseres Vaters gehackt», erinnert sie sich. «Den Rest unserer Zeit verbrachten wir damit, uns unsere eigene Fantasiewelt auszudenken und Geschichten darüber zu schreiben.» Als die Geschwister beschlossen, diese Geschichten auf einer eigens dafür programmierten Website zu veröffentlichen, entdeckte Julia Chatain das kreative Potenzial der digitalen Welt. «Das Internet faszinierte mich», erinnert sie sich. «Jedes Mal, wenn ich etwas programmieren wollte, konnte ich es einfach online suchen und irgendjemand irgendwo hatte eine Erklärung. Ich hatte das Gefühl, dass alles möglich ist – und dieses Gefühl habe ich immer noch!»
«Informatik ist viel einfacher zu verstehen, als man denkt.»Julia Chatain
Es ist dieses Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten, das Chatain an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihrer Workshops weitergeben möchte. «Informatik ist viel einfacher zu verstehen, als man denkt», sagt sie. «Aber vielen Menschen, insbesondere Frauen, wird gesagt, es sei zu kompliziert für sie. Sie werden nicht ermutigt, es zu probieren.» Durch Programmier-Workshops rund um Augmented Reality können Menschen das kreative Potenzial der Informatik entdecken und lernen, sich Technologien zu eigen zu machen, die sie bisher einschüchterten. «Ich will keine Frauen zwingen, Informatik zu mögen», sagt Chatain. «Ich möchte ihnen aber die Chance geben, zu erkennen, dass sie nicht so beängstigend ist – und dass sie absolut etwas ist, was Frauen können.»
Bewusstsein bringt Besserung
Chatain will weitere Programmier-Workshops rund um AR’n’B organisieren, insbesondere für Frauen und nichtbinäre Personen. «Ich habe festgestellt, dass sich Frauen in Anwesenheit von Männern oft weniger zu Wort melden, zumal das Thema Informatik für viele Frauen bereits einschüchternd ist», erklärt sie. «Ich möchte ihnen ermöglichen, ihren ersten Kontakt mit dem Programmieren in einer geschützten Umgebung zu haben, damit sie später auch in Anwesenheit von Männern sicher auftreten können. In einer perfekten Welt könnten wir von Anfang an mit gemischtgeschlechtlichen Gruppen arbeiten, aber das ist noch nicht der Fall.»
Die Welt wird jedoch besser, glaubt Julia Chatain. Alte Vorurteile weichen einem verstärkten Problembewusstsein, und Chatain hofft, dass die nächste Generation von Frauen in der Informatik es leichter haben wird als sie. «Die Einstellung gegenüber Frauen ändert sich – und ich habe auch meine eigene Einstellung geändert», sagt sie. «Früher hatte ich das Gefühl, als würde ich jedes Mal, wenn ich etwas nicht wusste und eine Frage stellen musste, zeigen, dass mein ganzes Geschlecht unfähig ist. Meine männlichen Kollegen hatten nie solche Bedenken – wenn sie eine Frage hatten, haben sie sie einfach gestellt. Ich beschloss, dasselbe zu tun. Am Ende ist man einfach nur ein Mensch, der versucht, seinen Job nach bestem Wissen und Gewissen zu machen.»