Grundlagenfach Informatik: Drei Generationen, ein Ziel
Im vergangenen Jahr wurde beschlossen, dass die Informatik ab dem Schuljahr 2024/25 zum Grundlagenfach an Schweizer Gymnasien wird. In einem gemeinsamen Gespräch blicken drei Professorengenerationen, die sich für dieses Anliegen eingesetzt haben, in die Vergangenheit und Zukunft des Schulfachs Informatik.
Was hat die Bekanntgabe des Entscheids, Informatik endlich zum Grundlagenfach an Schweizer Gymnasien zu machen, bei Ihnen ausgelöst?
Dennis Komm: Ein Stück weit war es schon länger klar, dass die Zeichen sehr gut stehen; wir wurden nicht komplett überrascht. Dennoch erinnere ich mich, dass wir uns sehr gefreut haben, als die Pressemeldung veröffentlicht wurde. Es war schön, den Entscheid wirklich schwarz auf weiss zu sehen.
Walter Gander: Ich habe mir einfach nur gedacht: Endlich, nach vierzig Jahren ist es so weit. Das muss man sich mal überlegen, vierzig Jahre und nicht vier Jahre hat das gedauert.
Juraj Hromkovič: Diese vierzig Jahre bei Walter Gander und die zwanzig Jahre bei mir zeigen, dass es ein Lernprozess für Gesellschaft und Politik war. Es handelt sich schlussendlich um eine Evolution und keine Revolution. Das Grundlagenfach Informatik ist einer von vielen Meilensteinen, die das Schweizer Schulsystem erreicht hat. Die Informatik war zuerst ein Ergänzungsfach und dann ein obligatorisches Fach im Gymnasium. Ausserdem wurde in der Primarschule und der Sekundarstufe I das Modul «Medien und Informatik» eingeführt.
Warum ist es wichtig, Informatik als Schulfach zu unterrichten?
Gander: Informatik sollte eines der Grundlagenfächer sein, weil man die heutige Welt nur verstehen kann, wenn man ein Grundverständnis der Informatik hat. Deshalb ist es so wichtig, dass Informatik nun endlich in den Schulen angelangt ist und vom Kindergarten bis zur Matura unterrichtet wird.
Hromkovič: Als Ziel im Lehrplan 21 steht, dass die Schülerinnen und Schüler die Welt, in der sie leben, verstehen und mitgestalten können. Ein weiteres Ziel ist die Vorbereitung auf die Berufe der Zukunft. Wir wissen nicht, wie diese aussehen werden, aber es wird in allen Arbeitsbereichen eine Automatisierung stattfinden. Nur wer diese Automatisierungsprozesse versteht, wird in Zukunft im eigenen Beruf eine hohe Expertise erlangen können.
«Wir wissen nicht, wie die Berufe der Zukunft aussehen werden, aber es wird in allen Arbeitsbereichen eine Automatisierung stattfinden. Nur wer diese Automatisierungsprozesse versteht, wird in Zukunft im eigenen Beruf eine hohe Expertise erlangen können.»Prof. em. Juraj Hromkovič
Herr Komm, was lernen die Schülerinnen und Schüler im Informatikunterricht?
Komm: Das Programmieren ist ein wesentlicher Bestandteil und gleichzeitig nur eine Facette des Informatikunterrichts. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das sogenannte «Computational Thinking». Es geht dabei um den Aufbau von Problemlösekompetenzen und insbesondere darum, dass wir Werkzeuge entwickeln, die uns das systematische Lösen von Problemen ermöglichen. Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht nur einzelne Problemfälle selbst lösen können, sondern das Lösen des jeweiligen Problems so gut verstehen, dass sie es an einen Computer delegieren können. Viele der entsprechenden Informatikkonzepte können dabei unterrichtet werden, ohne überhaupt einen Computer anzufassen. Man kann das spielerisch schon früh in den Unterricht einbringen.
Was ändert sich dadurch im kommenden Schuljahr an den Gymnasien?
Hromkovič: Der Unterschied zu früher ist, dass es nun eine vorgeschriebene Mindestzahl an Lektionen gibt, die für alle Kantone gilt. Es gibt jetzt einen Lehrplan, der festlegt, was im Grundlagenfach Informatik behandelt werden soll. Ausserdem wird das Fach für die Maturitätsprüfungen relevant. Vorher wurde es in einigen Kantonen überhaupt nicht bewertet.
Komm: Schülerinnen und Schüler werden ferner ein Schwerpunktfach Informatik wählen können, wenn ein solches angeboten wird. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Lehrpersonen und Schulen darauf bestmöglich vorzubereiten und es ihnen zu ermöglichen, Informatik als Schwerpunktfach anzubieten.
Was tun Sie an der ETH Zürich, um Informatiklehrpersonen auszubilden?
Komm: Es gibt das Informatik-Lehrdiplom an der ETH und wir sind alle drei in das schweizweite GymInf-Programm involviert. Das ist eine Art Fast-Track-Programm für bestehende Lehrpersonen, die nun zusätzlich Informatik unterrichten wollen. Daneben bieten wir diverse Weiterbildungsprogramme «on the job» an und konzipieren umfassende Lehrmittel für den Unterricht.
Hromkovič: Die Ausbildung von Gymnasiallehrpersonen in Informatik hat an der ETH Zürich eine mehr als 25-jährige Tradition. Das zeigt, dass wir auch in Zeiten, in denen es noch kein Fach Informatik an den Schulen gab, immer daran geglaubt haben, dass es irgendwann so weit kommen wird.
Komm: Wir setzen uns für den Unterricht auf allen Schulstufen ein, immer mehr auch gemeinsam mit pädagogischen Hochschulen. Juraj Hromkovič ist schon vor zwanzig Jahren an Schweizer Primarschulen gegangen und hat dort Informatik unterrichtet. Später war ich dann ebenfalls mit dabei.
Herr Gander, im Gegensatz zu Ihren beiden Kollegen waren Sie in Ihrer Zeit an der ETH Zürich nicht für die Fachdidaktik Informatik, sondern für das Wissenschaftliche Rechnen zuständig. Was war Ihre Motivation, sich trotzdem für den Informatikunterricht in den Schulen einzusetzen?
Gander: Richtig angefangen hat mein Interesse am Informatikunterricht in den 1970er-Jahren, als ich als Privatdozent an der ETH numerische Mathematik unterrichtet habe. Da stellte ich fest, dass den Studierenden das Verständnis für die Apple-II-Computer fehlte, mit denen sie damals die Aufgaben lösen sollten. Also brachte ich ihnen die Programmiersprache Pascal bei, bevor ich mit den eigentlichen mathematischen Übungen begann. Am Ende des Kurses waren alle interessiert und haben mit Leidenschaft programmiert. Es war schön, ihre Lernfortschritte mitzuerleben und zu sehen, dass ich etwas bewirken konnte. In den 1980er-Jahren verfasste ich dann ein Buch für den Gymnasialunterricht und hielt Vorträge auf Kolloquien für Mathematiklehrpersonen.
«Ich kann mir fast keine wichtigere Berufung und kein anderes Thema vorstellen, für das meine Zeit besser investiert wäre. Es geht letzten Endes darum, inwiefern unsere Kinder mündige Bürgerinnen und Bürger werden, die die Welt, in der sie leben, mitgestalten können.»Prof. Dennis Komm
Herr Hromkovič und Herr Komm, wie sind Sie zur Fachdidaktik Informatik gekommen?
Hromkovič: In meiner akademischen Laufbahn habe ich mich anfangs nicht mit Fachdidaktik beschäftigt. Erst als meine Töchter eingeschult wurden, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie guter Mathematik- und Informatikunterricht aussehen könnte und erste Projekte in diesem Bereich umgesetzt. Als ich an die ETH kam, hatte ich den Auftrag, die Ausbildung der Gymnasiallehrpersonen zu übernehmen. Ich komme aus Osteuropa. Dort hat die Informatikausbildung eine ganz andere Tradition. Bei uns gab es damals bereits ein anerkanntes, eigenständiges Fach am Gymnasium – also ganz anders als in der Schweiz. Ich habe mir gesagt, wenn ich wirklich etwas erreichen will, kann ich mich nicht nur um die Umsetzung am Gymnasium kümmern, sondern mache das jetzt flächendeckend für alle Schulstufen. So kam es zur Gründung des Ausbildungs- und Beratungszentrums für Informatikunterricht (ABZ). Man kann Schülerinnen und Schüler mit Programmieren unendlich frustrieren, aber auch enorm begeistern. Es kommt nicht darauf an, dass man es tut, sondern wie man es tut. Ich habe schnell verstanden, was ich alles beeinflussen kann und dass ich einen gesellschaftlichen Beitrag leiste, wenn ich mich um die Informatikausbildung kümmere.
Komm: Mich hat bereits früh interessiert, wie Menschen lernen, weswegen ich im Nebenfach Psychologie mit dem Schwerpunkt «menschliche Aufmerksamkeit und Gedächtnis» studiert habe. Hinsichtlich der Motivation für meine heutige Tätigkeit geht es mir gleich wie Juraj Hromkovič. Ich kann mir fast keine wichtigere Berufung und kein anderes Thema vorstellen, für das meine Zeit besser investiert wäre. Es geht letzten Endes darum, inwiefern unsere Kinder mündige Bürgerinnen und Bürger werden, die die Welt, in der sie leben, mitgestalten können. Und das geht nur, wenn sie die Grundlagen der Informatik verstehen. Auch nur einen kleinen Teil dazu beitragen zu können, dass sie dieses Wissen und diese Neugierde in ihrer Schullaufbahn mit auf den Weg bekommen, ist für mich ein grosses Privileg.
Herr Gander, Sie haben mit Professor Urs Hochstrasser, dem damaligen Direktor des Bundesamtes für Bildung und Forschung, einen Text verfasst, in welchem Sie den vierzigjährigen Weg des Schulfachs Informatik darlegen. Mit welchen Rückschlägen hatten Sie besonders zu kämpfen?
Gander: Der grösste Rückschlag war die Maturareform im Jahr 1995. Damals wurde die Informatik zu «Information and Communication Technology» (ICT). Es ging also im Unterricht nur um den Umgang mit Computern, den darauf laufenden Programmen und um das Internet. Das führte zu einem gesellschaftlichen Meinungsumschwung und es tauchte die Frage auf, warum man überhaupt noch Programmieren lernen sollte. Es würde schliesslich ausreichen, wenn man die bestehenden Programme bedienen könne. Wir haben Gegenargumente gesammelt und viel Rückendeckung vom Mathematik- und Physiklehrerverband und einigen Gymnasien bekommen, aber es hat leider nichts genützt.
Komm: Das wiederholt sich heute ein Stück weit: Jetzt haben wir ja generative KI und Sprachmodelle, warum muss man noch Programmieren lernen?
Gander: Genau, im Moment gibt es wieder so eine Welle.
Was halten Sie dem entgegen?
Komm: Ich möchte nicht als anachronistischer Professor aus dem Elfenbeinturm verstanden werden. In meinen Augen gehören beispielsweise die jüngsten Entwicklungen im Bereich generative KI durchaus ins Schulcurriculum. Ich bin allerdings der Meinung, dass man darauf achten sollte, dass nicht nur die Verwendung solcher Blackboxes unterrichtet wird. Stattdessen sollte man die Konzepte lernen, auf denen sie basieren. Natürlich wird es dabei stets ein gewisses Abstraktionsniveau und eine didaktische Reduktion geben – aber es sollte im Informatikunterricht nicht um die reine Anwendung gehen.
Hromkovič: Die Mündigkeit ist hierbei ein wichtiger Punkt. Es entsteht eine neue Technologie und man kann nicht darüber entscheiden, in welche Richtung es mit dieser geht, wenn man nicht versteht, wie sie funktioniert. Man kann sie dann nur bedienen. So ist man abhängig von den Leuten, die diese Technologien entwickeln.
Wie kam es dazu, dass wir uns ab 2007 wieder von dieser anwendungsorientierten Computernutzung wegbewegt haben?
Gander: Die Industrie und auch die Hochschulen haben gemerkt, dass es nicht ausreicht, wenn man im Internet herumsurfen sowie Word oder Excel bedienen kann. Die Industrie wollte neue Software produzieren und bei der Ausbildung von Fachleuten kommt man mit ICT-Wissen nicht weit, da fehlen die Informatikgrundlagen. Darum hat der damalige Bundesrat Pascal Couchepin sich für die Einführung eines freiwilligen Informatikfachs im Gymnasium eingesetzt. Wenn es allerdings so ist, dass Schülerinnen und Schüler zwischen Sport und Informatik als Ergänzungsfach wählen können, dann ist Sport natürlich oftmals attraktiver. Da geht man zwei Stunden pro Woche hin und ist fertig, während die Informatik um einiges lernintensiver ist.
Hromkovič: Ja, aber die Einführung des Ergänzungsfachs war zumindest ein erster Schritt, und solche ersten Schritte sind immer wichtig, um später weitere machen zu können.
«Wir hatten an der ETH Zürich mehrere Präsidentinnen, Präsidenten, Rektorinnen und Rektoren, die sich stark für die Informatik in den Schulen eingesetzt und unser Anliegen unterstützt haben. Dafür kann man wirklich dankbar sein.»Prof. em. Walter Gander
Wie schätzen Sie die Entwicklung des Fachs Informatik in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern ein?
Hromkovič: Ich denke, jedes Land hat seine eigene Geschichte geschrieben und schreibt sie immer noch. Der Prozess ist nicht abgeschlossen.
Gander: Die Schweiz hat bereits sehr früh mit Computern Erfahrungen gesammelt und die Informatik mitgeprägt, beispielsweise durch den kürzlich verstorbenen Niklaus Wirth, der die Programmiersprache Pascal erschaffen hat, die als Weltsprache für den Programmierunterricht gilt. Dass die Schweiz trotz ihrer damaligen Vorreiterrolle erst jetzt das Grundlagenfach Informatik einführt, erstaunt mich nach wie vor.
Hromkovič: Es ist traurig, dass die Schweiz ihren Vorsprung mit der Zeit verloren hat. Aber wir sind jetzt dabei, diesen Status wieder aufzubauen und zum Vorbild für andere zu werden. Es gibt mehrere Länder, die sich anschauen, was wir hier machen und von uns lernen wollen. Wir werden auch immer wieder eingeladen. Andererseits wird auch die Schweiz dadurch beeinflusst, was in anderen Ländern passiert.
Komm: Die heutige Momentaufnahme ist gar nicht so schlecht und auch gar nicht so selbstverständlich.
Wenn wir nun gemeinsam in die Zukunft blicken, welche weiteren Meilensteine gilt es noch zu erreichen?
Komm: Ein konkreter Meilenstein wäre, dass meine Tochter eines Tages von der Primarschule nach Hause kommt und erzählt: «Papa, meine Lehrerin hat uns heute die binäre Suche beigebracht.» Wenn das passiert, setze ich ein Häkchen in meine Agenda. Ich habe eine vierjährige und eine einjährige Tochter und somit zwei Chancen, dieses Ziel zu erreichen. Ansonsten ist es schwierig, zukünftige Ziele zu operationalisieren, der Wunschzettel ist lang. Der derzeitige Stand mit dem Informatikunterricht vom Kindergarten bis zur Matura in den Lehrplänen stimmt mich optimistisch. Dennoch würde ich mich natürlich freuen, wenn beispielsweise der Anteil der Frauen im Informatikstudium weiterhin ansteigen würde. Unsere Aufgabe in den kommenden Jahren wird es sein, Lehrpersonen und Schulen so gut wie möglich darin zu unterstützen, Lehrpläne, Unterrichtsmaterialien und Tools zu entwickeln, um die Umsetzung eines qualitativ hochwertigen Informatikunterrichts auf allen Schulstufen zu ermöglichen.
Gibt es jemandem, dem Sie für sein / ihr Engagement danken möchten?
Komm: Natürlich den beiden Herren neben mir. Man darf nicht unterschätzen, was sie trotz teilweise heftigem Gegenwind geleistet haben. Dank ihrer Vorarbeit befinde ich mich nun in einer recht komfortablen Position mit viel Rückenwind. Ich bin ausserdem dem Departement Informatik und der Schulleitung der ETH Zürich extrem dankbar für die grosse Anerkennung und Unterstützung. Darüber hinaus möchte ich den Lehrerinnen und Lehrern in der Schweiz meinen Dank aussprechen. Ich sollte es mittlerweile eigentlich wissen, aber ich bin immer wieder erstaunt darüber, was für Persönlichkeiten an Schweizer Schulen unterrichten. Ihre Unterstützung und ihr Engagement waren ausschlaggebend dafür, dass es zu den beschriebenen Veränderungen gekommen ist.
Hromkovič: Das stimmt, solche Änderungen können nur durch die kollektiven Bemühungen zahlreicher Personen passieren, von Pädagoginnen und Pädagogen über Fachpersonen bis hin zur Industrie. Ein solches Unterfangen kann nicht von Einzelpersonen vollbracht werden. Ich möchte auch den Mitgliedern des Departements Informatik und der Schulleitung danken, die seit über 25 Jahren daran geglaubt haben und die Ausbildung für Informatiklehrpersonen an der ETH Zürich ermöglichen.
Gander: Dem stimme ich voll und ganz zu. Wir hatten an der ETH Zürich mehrere Präsidentinnen, Präsidenten, Rektorinnen und Rektoren, die sich stark für die Informatik in den Schulen eingesetzt und unser Anliegen unterstützt haben. Dafür kann man wirklich dankbar sein.
Zu den Personen
Dennis Komm ist seit 2022 ausserordentlicher Professor an der ETH Zürich und leitet die Gruppe für Algorithmen und Didaktik sowie das Ausbildungs- und Beratungszentrum für Informatikunterricht. Zuvor arbeitete er als Professor für Fachdidaktik Informatik an der Pädagogischen Hochschule Graubünden.
Der kürzlich emeritierte Professor Juraj Hromkovič war von 2004 bis 2024 ordentlicher ETH-Professor für Informationstechnologie und Ausbildung. Um die Einführung der Informatik als Schulfach in der Schweiz zu fördern, gründete er 2005 das Ausbildungs- und Beratungszentrum für Informatikunterricht.
Professor Emeritus Walter Gander war von 1987 bis 1991 ausserordentlicher und von 1991 bis 2009 ordentlicher Professor für Informatik an der ETH Zürich. In dieser Zeit setzte er sich stark für die Frauenförderung in der Informatik ein sowie für die Etablierung eines eigenständigen Informatikunterrichts in der Schule.