Begabtenförderung: mit Informatik zu neuer Motivation

Begabte Kinder sind in der Schule häufig unterfordert. Darunter leiden ihre Motivation und die Freude am Lernen. Das Zentrum für Begabtenförderung am Departement Informatik will dem mit ausserschulischen Förderkursen entgegenwirken.

Dass ein Kind am Samstagmorgen früh aufstehen und Programmieraufgaben lösen möchte, ist nicht selbstverständlich. «Das sind halt ganz andere Aufgaben als in der Schule», schmunzelt Zsófia Marossy, 12. Nelio Sgro, 13, pflichtet ihr bei: «In der Schule haben wir nie programmiert!» Gemeinsam mit zehn anderen Kindern haben Nelio und Zsófia im Frühling 2020 an einem Informatikkurs des Zentrums für Begabtenförderung am Departement Informatik der ETH Zürich teilgenommen.

Der sechswöchige Kurs basiert auf der Programmiersprache Python und bringt begabten und hochbegabten Kindern zwischen 9 und 12 Informatikgrundlagen wie Algorithmen, Kryptographie und Logik näher. «Wir vermitteln den Kindern, dass es mehr zu lernen gibt als nur den Schulstoff», sagt Elizabeta Cavar, die den Kurs von Zsófia und Nelio unterrichtet hat. «Programmieren ist nicht nur in der Informatik gefragt, sondern in allen Naturwissenschaften, in der Technik und in der Mathematik.» Cavar, die in Physik promoviert hat, leitet das Zentrum für Begabtenförderung und ist eine seiner Mitbegründerinnen.

«In der Schule haben wir noch nie Informatik dieser Art gehabt. Aber später möchte ich unbedingt etwas mit Informatik machen!»Zsófia Marossy, 12

Vom Pilotprojekt zum festen Angebot

Der Grundstein für das Zentrum wurde im Frühjahr 2019 gelegt. Serena Pedrocchi, Mitarbeiterin am Ausbildungs- und Beratungszentrum für Informatikunterricht der ETH Zürich (ABZ), führte einen Kurs für sechs hochbegabte Kinder im Kanton Uri durch. «Basierend auf dieser Erfahrung haben Elizabeta und ich ein Konzept für die Begabtenförderung in der Informatik erarbeitet und uns für die Förderung MINT Schweiz der Akademien der Wissenschaften Schweiz beworben», erinnert sich die ausgebildete Psychologin. Schnell zeigte sich, dass in der Schweiz viel Potenzial für die Förderung begabter Kinder vorhanden ist, und so gründeten die beiden Projektleiterinnen das Zentrum für Begabtenförderung. Neben Cavar und Pedrocchi umfasst das Team zwei weitere Mitarbeiterinnen sowie Bachelor-, Master- und Lehrdiplomstudierende der ETH Zürich.

Das Zentrum bietet Kurse auf drei Stufen an. Kurs 1 richtet sich an Sieben- bis Neunjährige, Kurs 2 an Zehn- bis Zwölfjährige und Kurs 3 an Oberstufenschülerinnen und -schüler im Alter von 13 bis 15 Jahren. Neben dem Programmieren ist «Computer Science Unplugged» ein wichtiger Bestandteil des Programms. In diesem Teil werden Informatikkonzepte ohne Computer eingeführt. «Bei Kryptographie und Datensicherheit zeigen wir beispielsweise auf, dass diese Themen existieren, seit der Mensch kommuniziert und Informationen in irgendeiner Form aufschreibt», erklärt Pedrocchi. Mit Geheimschriften und kodierten Texten lassen sich die Kinder schnell für die Welt der Informatik begeistern. Dabei gehen «unplugged» und Programmieren Hand in Hand. «Das Thema Kryptographie verbinden wir bei älteren Kindern mit dem Schreiben eines Verschlüsselungsprogramms», sagt Cavar.

«Die Naturwissenschaften, die Mathematik, die Informatik, die Technik – das ist nicht nur etwas für begabte Kinder, das ist für alle!»Elizabeta Cavar

Seine Kurse organisiert das Zentrum für Begabtenförderung gemeinsam mit Schulen, Gemeinden oder Verbänden in der ganzen Schweiz, sodass die Kinder in ihrer eigenen Schule zum Förderkurs gehen können. Alternativ können Kinder die Kurse auch an der ETH Zürich besuchen. Nelio und Zsófia wären an den sechs Samstagen nach Zürich gekommen, wäre ihr Kurs nicht aufgrund der Pandemie online verlegt worden. «Der schulische Heilpädagoge empfahl uns diesen Kurs, weil Nelio im Mathematikunterricht unterfordert und gelangweilt war», sagt Nelios Mutter Cornelia Sgro. Zsófia nahm an einer Programmier-Challenge des ABZ teil und wurde von einer ABZ-Mitarbeiterin für den Kurs vorgeschlagen.

IQ-Tests sind nicht ausschlaggebend

Doch wer bestimmt, ob ein Kind als begabt oder hochbegabt eingestuft wird? «Es gibt spezielle Testungen, um das abzuklären», erklärt Pedrocchi. Ein offizielles Testergebnis verlangt das Zentrum nur, wenn die Kinder direkt von ihren Eltern angemeldet werden. In allen anderen Fällen stützen sich die Kursleiterinnen auf die Einschätzung von Lehrpersonen oder Heilpädagoginnen und -pädagogen. «Wir haben IQ-Tests zu Beginn des Projekts intensiv diskutiert und uns dann bewusst entschieden, solche Nachweise nur dann zu verlangen, wenn keine Empfehlung von einer Lehrperson vorliegt», sagt Pedrocchi. Viel wichtiger als das Testergebnis ist es den Leiterinnen, das Unterrichtstempo und -niveau einhalten zu können, um dem Versprechen des Zentrums für Begabtenförderung gerecht zu werden. «Im Kurs 2 im Frühling 2020 habe ich sowohl getestete als auch ungetestete Kinder unterrichtet und ich konnte keinen Unterschied feststellen», sagt Cavar. «Sie alle haben Spitzenleistungen erbracht – ich war sehr begeistert.»

Begeistert waren auch die teilnehmenden Kinder, darunter Zsófia und Nelio, die beide keinen formellen IQ-Test gemacht haben. «Der Kurs hat mir sehr gut gefallen, auch wenn ich die letzte Challenge nicht ganz lösen konnte. Mit Programmieren kann man sehr viel machen, das interessiert mich», sagt Nelio. Auch Zsófia ist begeistert: «Es hat mir viel Spass gemacht, über die Aufgaben nachzudenken. Ich programmiere heute noch, wenn ich Zeit habe», sagt sie. Die Kinder waren so motiviert, dass Elizabeta Cavar und ihre Assistierenden speziell für sie einen Folgekurs entwickelt und im Herbst 2020 durchgeführt haben. «Am Ende des zweiten Kurses haben die Kinder einen eigenen Such- und Sortieralgorithmus programmiert», sagt Cavar. «Der Fleiss und die Leistung dieser Kinder haben uns sehr beeindruckt!»

«Der Kurs hat mir sehr gut gefallen. Mit Programmieren kann man sehr viel machen, das interessiert mich.»Nelio Sgro, 13

Die Arbeit mit begabten Kindern finden Serena Pedrocchi und Elizabeta Cavar sehr dankbar. «Ich finde es eindrücklich, wie lange sich diese Kinder konzentrieren können», sagt Serena Pedrocchi, die Sieben- bis Neunjährige unterrichtet. «Ich musste sie daran erinnern, eine Pause zu machen.» Elizabeta Cavar begann wegen ihrer eigenen Töchter, sich für die Entwicklungs- und Lernprozesse von Kindern zu interessieren. Bei der Arbeit mit begabten Kindern überrascht es sie immer wieder, wie schnell sie neue Konzepte aufnehmen. «Am liebsten würde ich alle Kinder in MINT-Fächern fördern», fügt sie hinzu. «Die Naturwissenschaften, die Mathematik, die Informatik, die Technik – das ist nicht nur etwas für begabte Kinder, das ist für alle!»

Warum begabte Kinder fördern?

Die Förderung von begabten Kindern ist genauso wichtig wie diejenige von Kindern mit einer Lernschwäche. «Begabte Kinder sind in der Schule oft unterfordert», erklärt Pedrocchi. «Das kann verschiedene Auswirkungen haben, zum Beispiel auch auf ihr Verhalten in der Schule.»

So erging es auch Nelio, der die meisten Aufgaben im Mathematikunterricht in der Schule sehr einfach findet. «Ich habe dann einfach die ganze Zeit mit dem Nachbar geschwatzt», gibt er zu. «Wir haben immer mehr gemerkt, dass es Nelio langweilig ist. Er ging nicht gerne in die Schule und kam demotiviert nach Hause», sagt Cornelia Sgro. «Wir sind dankbar, dass die Schule das gemerkt und ihn für den Kurs angemeldet hat. Der Kurs hat ihm Auftrieb gegeben und er war jedes Mal aufs Neue begeistert. Ich finde es wichtig, dass man diesen Lernwillen und die Neugier aufrechterhält.»

«Begabte Kinder sind in der Schule oft unterfordert. Das kann Auswirkungenauf ihr Verhalten haben.»Serena Pedrocchi

Elizabeta Cavar bestätigt: «Begabte Kinder langweilen sich oft in der Schule, und das hat Folgen für die Motivation. Sie können sogar das Interesse am Lernen verlieren», sagt sie. «Mit unseren Kursen wollen wir ihnen aufzeigen, dass es ausserhalb der Schule weitere Möglichkeiten gibt, neue, spannende Dinge zu lernen, die sie herausfordern.» Zsófia weiss das zu schätzen. «In der Schule haben wir noch nie Informatik dieser Art gehabt», sagt sie. «Aber später möchte ich unbedingt etwas mit Informatik machen!» Ihre Eltern versuchen sie nach Möglichkeit mit ausserschulischen Aktivitäten zu fördern. «Auch begabte Kinder brauchen eine gezielte Herausforderung, damit sie Erfolgserlebnisse auf ihrem Niveau haben», sagt Zsófias Mutter, Zita Marossy. «Nach dem Kurs war Zsófia sehr motiviert. Er hat ihr gutgetan, nicht nur für die Informatikkenntnisse, sondern ganz allgemein.»

Cavar und Pedrocchi begrüssen, dass immer mehr Kantone und Gemeinden Programme zur Begabtenförderung lancieren. «In Zukunft werden wir vermehrt Schulen dabei unterstützen, ihre eigenen Konzepte für die Begabtenförderung zu entwickeln», sagt Cavar. «Das ist der richtige Weg. Ausserschulische Aktivitäten sind schön und gut, aber Kinder in kleinen Gemeinden fernab der grossen Städte haben kaum Zugang dazu.» Zudem will das Zentrum für Begabtenförderung sein Kursangebot auch an Schulen in der Romandie, im Tessin und im Bündnerland bringen, was bisher durch die Pandemie erschwert war. «Wir haben noch grosse Pläne», sagt Elizabeta Cavar. «Aber zuerst wollen wir wachsen und unser Kursangebot verbessern und ausbauen.» Zsófia und Nelio würden sich auf jeden Fall für einen weiteren Kurs anmelden, beteuern die beiden Kinder.

Zentrum für Begabtenförderung

Das Zentrum für Begabtenförderung am Departement Informatik ist Teil des Ausbildungs- und Beratungszentrums für Informatikunterricht der ETH Zürich (ABZ). Es bietet ausserschulische Kurse für begabte und hochbegabte Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren an, in denen das Programmieren und die Grundlagen der Informatik vermittelt und zugleich die Mathematikkenntnisse vertieft werden. Dabei wird Wert auf kritisches Hinterfragen, Experimentieren und Kreativität gelegt. Die kostenlosen Kurse dauern üblicherweise fünf bis sechs Wochen, mit wöchentlichen Lerneinheiten von bis zu drei Stunden. Für die an der ETH Zürich stattfindenden Kurse dürfen Kinder durch erziehungsberechtigte Personen, Schulämter, Schulen oder Vereine angemeldet werden. Bei ausreichender Teilnehmerzahl organisiert das Zentrum Workshops vor Ort in anderen Kantonen und Gemeinden.

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