«Man sollte kein Start-up gründen, nur weil es gerade in ist»
Christian Reiter hat mehrere erfolgreiche Start-ups mitbegründet und scheut nicht vor neuen Branchen und Tätigkeitsfeldern zurück. Wie ihm sein Informatikstudium dabei hilft, erzählt er im Interview.
Christian Reiter, die letzten vier Jahre haben Sie als CEO des Start-ups Kingfluencers verbracht, das Influencer-Marketing betreibt. Wie kommen Sie als Informatiker dazu, ausgerechnet in diesem Bereich eine Firma mitzugründen?
Influencer-Marketing ist geprägt von zwei grossen Problemen: Identifikation und Kommunikation. Wenn ich Ihnen als normaler Konsument ein Produkt oder eine Dienstleistung empfehle und Sie diese kaufen, profitiert das Unternehmen dahinter. Es kann solche Weiterempfehlungen aber nicht gezielt einsetzen. Erstens weiss es gar nicht, dass ich das Produkt empfohlen habe – es kann mich nicht identifizieren. Zweitens: Selbst wenn es von mir wüsste, wäre die Kommunikation mit mir und Hunderten anderen Personen, die ihre Produkte empfehlen, viel zu umständlich. Diese zwei Herausforderungen wollte ich durch Technologie lösen. Dann traf ich auf meine Mitbegründer, die bereits erste Tests durchgeführt hatten und die ersten Unternehmen und Influencer an Bord hatten. So entstand Kingfluencers.
Wo steckt in Kingfluencers die Informatik?
Sie ist die Basis für das ganze Business. Die erste Version des Systems hatte ich selber programmiert, heute ist es in den Händen eines Entwicklerteams. Es handelt sich einerseits um eine Art CRM, in dem die Kunden ihre Kampagne samt Reporting sehen können. Das ist die Kommunikationsseite. Andererseits erstellen auch die Influencer ein Profil im System, damit sie identifiziert werden können. Kingfluencers nutzt das System, um Firmen und Influencer zusammenzubringen, unterstützt von einigen maschinellen Lernmodellen, die helfen, die passenden Influencer für eine Kampagne zu finden oder den Erfolg einer Kampagne vorherzusagen.
Warum haben Sie Ihre Rolle als CEO nun abgegeben?
Als Unternehmer und Gründer ist man auch Angestellter und muss ständig hinterfragen, ob man auch wirklich die ideale Person ist für das, was man tut. Es war von Anfang an klar, dass es ab einem gewissen Punkt einen «kommerzielleren» CEO benötigt. Dieser Moment ist jetzt da: Die Aufbau- und Entwicklungsphase ist abgeschlossen, das Businessmodell bewiesen und Kingfluencers ist mittlerweile auf ca. 15 Mitarbeitende und mehr als 1700 Influencer angewachsen. Ebenfalls läuft das Geschäft gut, wir sind Marktführer. Mein Nachfolger Benny ist der Richtige, um Kingfluencers in der anstehenden Wachstumsphase zu führen. Ich übergebe also mit einem guten Gefühl in ausgezeichnete Hände.
«Als Unternehmer und Gründer muss man ständig hinterfragen, ob man auch wirklich die ideale Person ist für das, was man tut.»Christian Reiter
Ihre erste Firma gründeten Sie bereits während Ihres Bachelorstudiums an der ETH mit. Wie kam es dazu?
Ich hatte mit ein paar Studienkollegen verschiedene Apps programmiert. Dann bekamen wir einen grossen Auftrag von der Thurbo AG, den wir nicht als Privatpersonen annehmen konnten. Also haben wir, nach einer Beratung durch die ETH, eine Kollektivgesellschaft namens Mobile Development Hitz & Partner gegründet.
Bekannt geworden sind Sie vor allem durch Bitspin, ein Start-up, das schliesslich von Google aufgekauft wurde. Wie entstand diese Firma?
Wir wollten zwischen dem Bachelor- und dem Masterstudium eine Android-App programmieren und damit etwas Geld verdienen. Android stand damals in Verruf für schlechte Apps, also war unser Plan, etwas zu machen, das es schon gibt und das alle brauchen – aber sehr viel besser als alle anderen. Wir entschieden uns für einen Wecker. Im Store fand man 50 Wecker-Apps, eine schlechter als die andere. Jung wie wir waren, dachten wir uns, dass wir in zwei Monaten locker etwas Besseres hinkriegen würden. Schlussendlich dauerte es vier Monate, aber es ist uns tatsächlich gelungen. Von Dingen wie Businessplan oder Finanzierungsrunden hatten wir noch kaum Ahnung. Wir haben es einfach umgesetzt.
Nach der Akquisition von Bitspin sind Sie nicht zu Google gegangen, sondern haben ein Jahr später ein neues Start-up gegründet, welches Sie aber nach wenigen Monaten wieder eingestellt haben. Würden Sie es anderen ETH-Studierenden empfehlen, in Ihre Fussstapfen zu treten und ein Start-up zu gründen?
Ich würde tendenziell sogar davon abraten, ausser man macht es aus den richtigen Gründen. Manchmal wird die Start-up-Szene etwas verherrlicht. In der Realität ist eine Gründung harte Arbeit ohne Erfolgsgarantie. Man sollte es nicht tun, weil es gerade in ist oder weil man meint, damit viel Geld verdienen zu können. Da ist man mit einer Anstellung bei Google besser bedient. Man muss den Prozess an sich mögen. Davon profitiert man auch, wenn das Start-up nicht überlebt.
«Eine Gründung ist harte Arbeit ohne Erfolgsgarantie. Man muss den Prozess an sich mögen. Davon profitiert man auch, wenn das Start-up nicht überlebt.»Christian Reiter
Was setzt Informatik in Ihren Augen von anderen Ingenieurdisziplinen ab, vor allem auch bezogen auf Firmengründung?
In der Informatik braucht man nur einen Laptop, um ein Produkt zu entwickeln. Das ist einzigartig. Schauen Sie sich zum Beispiel Maschinenbau an: Da können Sie zwar etwas entwerfen, aber Sie brauchen spezialisierte Materialien und Werkzeuge, um es zu bauen. Und das braucht wiederum Geld. Zusätzlich profitieren Informatikerinnen und Informatiker von der Open-Source-Bewegung. Entwürfe für Maschinen oder Bauteile sind oft proprietär und teuer zu lizenzieren. Ein Start-up kann sich das kaum leisten. Hingegen gibt es so viel offene Software, auch von den Grossen wie Google und Facebook, dass heute ein zwölfjähriges Kind seine App mit den neuesten Machine-Learning-Methoden ausstatten kann, hinter denen Jahrzehnte an Forschung und Entwicklung stecken – und das komplett kostenlos. Das macht Informatik sehr mächtig.
Sie haben ursprünglich eine Lehre als Lebensmitteltechnologe gemacht. Warum haben Sie sich danach für ein Informatikstudium an der ETH Zürich entschieden?
Ich war fasziniert von Computerspielen. Ich habe mir ein Buch gekauft, «C++ für Spieleprogrammierer», und angefangen, mir das selber beizubringen. Das Buch hatte eine coole 3D-Grafik auf dem Cover, und ich dachte, dass ich nach diesen 300 Seiten das auch können würde. Es reichte dann gerade mal für einfache 2D-Spiele. Ich habe aber festgestellt, dass mich die Technologie im Hintergrund viel mehr interessiert als das fertige Spiel. Ich wollte alles selber programmieren: Tiling- und Font-Rendering-Systeme, Sortieralgorithmen für High Scores. Da wurde mir klar, dass ich mehr darüber wissen wollte.
Ist es schwieriger, nach der Berufsmatura mit Passerelle an der ETH zu studieren als mit einer gymnasialen Matura?
Vielleicht ganz am Anfang. Die Passerelle ist sehr breit angelegt und vermittelt verschiedenste Fächer. Im Basisjahr an der ETH sind aber nur Mathematik und Physik gefragt. An der ETH fängt man fast bei null an und geht in den ersten paar Monaten den ganzen Schulstoff durch. Meine Kommilitonen, die von naturwissenschaftlich-mathematischen Gymnasien kamen, waren mit grösseren Teilen davon bereits vertraut. Aber irgendwann war auch für sie alles neu. Ich war sehr froh, dass es die Option mit der Passerelle gab, und ich nicht auch noch zuerst für drei Jahre ans Gymnasium musste. Die Passerelle ist viel Arbeit, vor allem im Selbststudium. In diesem Sinne war sie eine gute Vorbereitung auf die ETH.
«Es gibt an der ETH nicht nur Genies, sondern auch «normale» Leute. Und auch sie schaffen das, wenn sie daran arbeiten.»Christian Reiter
Was haben Sie im Studium gelernt, das über das Fachwissen hinausgeht?
Ich habe gelernt, analytisch zu denken und nicht vor schwierigen Aufgaben zurückzuschrecken. Ich hatte grosse Ehrfurcht vor der ETH Zürich, weil dort die Besten der Besten studieren. Das stimmt auch. Aber es gibt an der ETH nicht nur Genies, sondern auch normale Leute, wenn man das so sagen darf. Und auch sie schaffen das, wenn sie daran arbeiten. Das gibt einem Selbstvertrauen. Wenn man erst einmal Numerical Methods for Partial Differential Equations hingekriegt hat, schafft man wohl auch alles andere (lacht).
Können Sie das erklären?
«NumPDE» war eine Vorlesung von Prof. Ralf Hiptmair, die am Anfang besonders verwirrend war. In den letzten Wochen fügte sich das Wissen aber zusammen. Plötzlich verstand ich es. Das war oft der Fall im Studium, auch im Basisjahr: Am Anfang versteht man nichts, alles scheint so kompliziert. Wenn man aber konsequent lernt, ergibt der Stoff irgendwann einen Sinn. Manchmal passierte dieser Aha-Moment erst in den allerletzten Wochen vor der Basisprüfung. Man lernt also ein ganzes Jahr lang, bevor man etwas versteht. Da braucht es etwas Durchhaltewillen.
Was hat Ihnen die ETH nicht beigebracht?
Es gab jede Menge Dinge, die ich als Unternehmer auf die harte Tour gelernt habe, aber das gehört dazu. Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe der ETH ist, solche Dinge zu lehren. Es gibt so viele Karrierewege für ETH-Absolventinnen und -Absolventen, wie soll man da einen gemeinsamen Nenner finden?
Wie geht es für Sie weiter?
Ich werde höchstwahrscheinlich im Unternehmertum bleiben. Aber auch ein Masterstudium schliesse ich nicht komplett aus. Generell lege ich mich nicht gerne im Voraus fest. Viele meiner bisherigen Erfolge haben natürlich auch etwas mit Glück zu tun und damit, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Und natürlich verdanke ich meine ganze Laufbahn auch den Menschen, die mit mir gearbeitet haben: meinen Mitbegründern und Mitarbeitenden.
Über Christian Reiter
Christian Reiter hatte ursprünglich eine Lehre als Lebensmitteltechnologe und eine Berufsmatura gemacht, bevor er über die Passerelle an die ETH Zürich kam. Seinen Bachelor in Informatik schloss er 2014 ab. Er war Mitbegründer von Start-ups wie externe Seite Bitspin, Panamove und externe Seite Kingfluencers.