Brückenschlag: ein Computer für die Forschung
Timothy Roscoe ist ordentlicher Professor in der Systems Group am Departement Informatik der ETH Zürich. Unter seiner Leitung entstand Enzian, ein äusserst flexibler Forschungscomputer. Enzian ermöglicht Wissenschaftlern, Forschung auf vielen verschiedenen Gebieten der Informatik zu betreiben, ohne spezialisierte Hardware zu benötigen – und bringt so akademische Forschung und die Realität der Industrie näher zusammen.
Dies sind die Grundkomponenten eines Computers: Interconnect, CPU, Speicher, Ein- und Ausgabegeräte. «Wenn man ein Lehrbuch über Betriebssysteme öffnet, wird es darin ein einfaches Schema geben, das besagt: So sieht ein Computer aus», sagt Professor Timothy Roscoe. «Dieses Schema ist eine Lüge.»
Vor 20 Jahren waren die Schemata noch korrekt: Sie zeigen die Architektur eines traditionellen PCs, und die meisten Computer hatten damals eine ähnliche Anatomie. Heute sind die simplen Schemata überholt. Technische Fortschritte im Hardware-Design und in der Herstellung haben es einfach gemacht, massgeschneiderte Hardware zu entwickeln. Moderne Computer sind komplex und einzelne Prozessoren sind oft hochspezialisiert.
Timothy «Mothy» Roscoe, ordentlicher Professor in der Systems Group am Departement Informatik der ETH Zürich, ist sich dieser Entwicklung schmerzlich bewusst. «Der Betriebssystemforschung gehen die Möglichkeiten aus», sagt er. Häufig müssen die Forschenden mit handelsüblichen PCs vorliebnehmen, da man die kundenspezifische Hardware, die Google, Microsoft, Huawei und viele andere grosse Unternehmen nutzen, nicht kaufen kann. «Das macht die Forschung etwas weniger realistisch und relevant, als sie sein könnte», sagt Roscoe. Forschungsgruppen oder Universitäten, die in der Industrie anerkannt sind – wie die Systems Group der ETH – erhalten gelegentlich Muster der sonderangefertigten Hardware von den Unternehmen zur Verfügung gestellt. Das ist zwar interessant, schränkt die Forscherinnen und Forscher aber wiederum ein. «Wenn man eine Cloud- TPU erhält, die für Deep Learning entwickelt wurde, kann man sie verwenden, um Deep Learning zu untersuchen. Wenn man damit etwas anderes versucht, wird man gegen jede Annahme kämpfen müssen, die in das Design der Hardware eingeflossen ist», erklärt Roscoe.
Was also soll ein Betriebssystemforscher tun? «Ich möchte nach Software für Hardware forschen, die noch nicht gebaut, ja noch nicht einmal entworfen wurde», sagt Timothy Roscoe. Da Roscoe und seine Forschungsgruppe dafür keine passende Plattform hatten, haben sie beschlossen, ihre eigene zu bauen. So entstand das Konzept des hochflexiblen Forschungscomputers Enzian.
Für die Forschung entwickelt
Auf seiner Website beschreibt sich Roscoe mit den Worten: «Ich bin ein Betriebssystemforscher: Ich baue Dinge.» Bisher fokussierte er sich auf die Entwicklung von Software: skalierbare Betriebssysteme, die sich an die zunehmend heterogene Architektur moderner Computer anpassen. «Wir bauen keine Produkte, um ein bestimmtes Problem zu lösen», betont er. «Wir bauen Systeme, um das Problem besser zu verstehen und mögliche Lösungsansätze zu erforschen.»
«Wir bauen keine Produkte, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Wir bauen Systeme, um das Problem besser zu verstehen und mögliche Lösungsansätze zu erforschen.»Professor Timothy Roscoe
Dieses Grundprinzip haben Roscoe und sein Team auch beim Design ihres Forschungscomputers angewandt. Enzian, benannt nach der in den Schweizer Alpen heimischen, intensiv blauen Enzianblüte, soll Informatikforschenden der ETH und der ganzen Welt eine flexible Hardwareplattform zur Verfügung stellen, um die Lücke zwischen der Wissenschaft und der massgeschneiderten Industriehardware zu schliessen. In gewisser Weise ist Enzian auch ein Produkt: Er wird von Industriepartnern hergestellt und interessierten Parteien, zu denen bereits mehrere renommierte Universitäten und Forschungseinrichtungen gehören, zum Kauf angeboten.
Auf den ersten Blick ähnelt der Computer, der ein so grosses Interesse geweckt hat, einem handelsüblichen Zwei-Sockel-Server: zwei verschiedene CPUs mit jeweils eigenem Speicher, Netzwerkbandbreite und Anschlüssen für Peripheriekomponenten. Das Team von Timothy Roscoe hat jedoch eine der CPUs durch ein High-End-FPGA (Field Programmable Gate Array) ersetzt. Dieser integrierte Schaltkreis lässt sich jederzeit neu konfigurieren und kann somit für verschiedenste Forschungsaufgaben eingesetzt werden. Die enge Kopplung des umprogrammierbaren Chips mit einer Standard-CPU bietet eine aussergewöhnliche Flexibilität. «Wir können das FPGA so programmieren, dass wir damit das Verhalten der CPU in Echtzeit beobachten oder bewusst Fehler einbringen können, um die Korrektheit, Verifikation oder Validierung von Software zu untersuchen», erklärt Timothy Roscoe. «Umgekehrt können wir auch die CPU benutzen, um das FPGA zu untersuchen.» Ein einziges Enzian-Board kann unter anderem die Forschung in den Bereichen High-Performance-Computing, Hardwarebeschleunigung, Datenbanken und maschinelles Lernen erleichtern. Aber damit sind die Fähigkeiten von Enzian noch nicht ausgeschöpft.
Enzian existiert vorerst in Form von zwei sperrigen Prototypen am Departement Informatik. Die forschungsfertigen Boards, die derzeit von einem Industriepartner in Deutschland hergestellt werden, werden zu 15 bis 20 Stück in ein Standard-Serverrack hineinpassen. Hier kommt ein weiteres Feature ins Spiel: Das FPGA unterstützt eine aussergewöhnliche Netzwerkbandbreite von 400 Gigabit. Die Verknüpfung mehrerer Enzian-Boards bietet den Forschenden neue Möglichkeiten, Netzwerke und Sicherheit zu untersuchen. «Ich habe an verschiedenen Universitäten Vorträge über Enzian gehalten und wurde nach jedem Vortrag gefragt, wann man denn so ein Board kaufen könne», sagt Timothy Roscoe.
Der Professor selbst ist ebenso gespannt darauf, die vielfältigen Möglichkeiten, die Enzian bietet, zu entdecken. Als Betriebssystemforscher ist Roscoe besonders daran interessiert, mögliche Betriebssysteme für die FPGA-Komponente zu entwickeln. «Das FPGA hat kein Betriebssystem», erklärt er. «Wenn man will, dass es eine andere Aufgabe ausführt, schaltet man es aus, rekonfiguriert es und schaltet es dann wieder ein. Aber aus der Sicht der Betriebssystemforschung ist ein System, das nur eine Aufgabe aufs Mal erledigt, wie Tennisspielen ohne Netz: zu einfach.» Deshalb will er an einem Betriebssystem arbeiten, welches das Potenzial des FPGA besser ausschöpfen kann. Es ist keine einfache Aufgabe: Eine Software, die sich an die veränderliche Hardwarestruktur der programmierbaren Komponente anpassen könnte, ist schwer vorstellbar.
Unverzichtbar, aber oft unerkannt
Glücklicherweise ist Timothy Roscoe solche digitale Anarchie nicht fremd. In seinem Fachgebiet sind Mathematik und Theorie zwar wichtig, stossen aber irgendwann an ihre Grenzen. «Betriebssysteme sind keine idealisierten Konstrukte. Sie agieren in der realen Welt, und die Welt ist ein sehr chaotischer Ort», erklärt Roscoe. Die Komplexität der Betriebssysteme macht Zusammenarbeit unter den Forschenden unerlässlich. Oft geraten Systemprogrammierer in die Zwickmühle zwischen Hardware-Designern und Anwendungsentwicklern.
«Betriebssysteme sind keine idealisierten Konstrukte. Sie agieren in der realen Welt, und die Welt ist ein sehr chaotischer Ort.»Professor Timothy Roscoe
Doch obwohl sie eine entscheidende Rolle bei der Verwandlung des Klumpens aus Metall und Silizium in einen funktionierenden Computer spielen, finden Betriebssystemprogrammierer und -forscherinnen selten grosse Anerkennung ausserhalb der Informatik. Die Komplexität der Arbeit an der Grenze zwischen Hard- und Software macht es schwierig für Roscoe und andere Betriebssystemforschende, ihre Arbeit Aussenstehenden zu erklären oder vorzuführen. «Betriebssysteme sind an sich nicht besonders glamourös», sagt er. «Aber es geht um die Entwicklung und den Aufbau der neuen Computerinfrastruktur, die für all die andere bedeutende Informatikforschung an der ETH und anderswo benötigt wird.»
Dank Beiträgen von Roscoe und seinen Kolleginnen und Kollegen hat sich die Systems Group an der ETH einen guten Ruf im Bereich der Betriebssystemforschung erarbeitet. «Als ich 2007 hier Professor wurde, war die ETH in der Betriebssystem-Community wenig bekannt», erinnert er sich. «Ein Freund hat sie mir empfohlen und ich bin ihm bis heute dankbar. Die ETH ist ein phänomenaler Arbeitsort, mit hervorragenden Forschenden und grossartigen Studierenden – und sie wird immer besser.»