"KI hilft uns, mehr und komplexere Fakten zu erfassen"
Seine Dissertation in Biophysik führte Joachim Buhmann Mitte der Achtzigerjahre ins damals noch exotische Terrain des maschinellen Lernens. Seit 2003 hat er als ETH-Professor die explosionsartige Entwicklung seines Fachgebiets mitgestaltet. Sorge bereitet ihm nicht der technische Fortschritt, aber der Umgang der Gesellschaft damit. Kurz vor seiner Emeritierung blickt er auf seine akademische Karriere zurück, in der neben Lehre und Forschung auch Verwaltungsfunktionen grosse Bedeutung zukommt.
Warum sind Sie Wissenschaftler geworden?
Es gibt eine grossartige Antwort von Luc Ferry, einem französischen Philosophen und ehemaligen Bildungsminister. Es geht dabei um die Frage, warum Menschen nach ihrem Tod etwas hinterlassen wollen. Obwohl wir wissen, dass unsere physische Existenz begrenzt ist, wünschen wir uns, etwas zurückzulassen, das unsere Lebenszeit überdauert. Dies kann dadurch erreicht werden, dass wir Nachkommen zeugen und grossziehen oder als Lehrpersonen andere ausbilden und inspirieren. Das grösste Vermächtnis hinterlassen jedoch laut Ferry die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, da sie durch ihren Erkenntnisgewinn einen dauerhaften Beitrag für die Menschheit als Ganzes leisten. Ob ich damit erfolgreich war oder nicht, das sollen andere beurteilen und das zeigt sich vielleicht erst später. Ich glaube aber, dass ich als Wissenschaftler zumindest versucht habe, wichtige Fragen zu beantworten und neue Erkenntnisse zu gewinnen, und einige meiner Doktorierenden haben sicherlich neues Wissen mitgenommen, das sie dann weiterentwickelt haben.
Wussten Sie schon zu Beginn Ihrer Karriere, dass Sie an einer Universität forschen wollten?
Es war eine Art Idealvorstellung, aber ich war nie von der Idee besessen, unbedingt Professor werden zu müssen. Nach meiner Zeit als Postdoc in Kalifornien war ich der Idee, eine Professur anzustreben, gegenüber recht aufgeschlossen, weil meine Kinder bereits älter waren. Meine Frau und ich bekamen unsere Kinder in unseren Zwanzigern und ich wurde im Alter von 32 Jahren an der Universität Bonn ausserordentlicher Professor. Ich bin überzeugt, dass das Glück bei meiner Karriere eine Rolle gespielt hat. Es hätte sicherlich auch ganz anders kommen können.
Hätten Sie einen Plan B gehabt?
Mein Plan B wäre gewesen, in ein Forschungslabor oder die Industrie zu gehen. Im Bereich Maschinelles Lernen gab es bereits in den 1990er-Jahren Optionen, wenn auch nicht so viele wie heute. Ich hatte Angebote aus der Industrie erhalten, habe mich dann aber für den Forschungsweg entschieden. Es ist entscheidend, einen Plan B zu haben. Ich bin überzeugt, dass es nicht den einen richtigen Weg gibt und sich im Leben viele Türen auftun. Man muss aus den gegebenen Optionen eine sehr gute für sich auswählen. Wobei ich der Meinung bin, dass man die meisten Optionen im Leben sinnvoll nutzen kann.
Wenn mich Studierende nach Karrieretipps fragen, empfehle ich ihnen immer, sich nicht zu sehr auf eine Option zu versteifen. Das ist auf lange Sicht wahrscheinlich hinderlich. Denn so hat man nicht die Chance, andere Wege auszuprobieren und ist weniger offen für neue Möglichkeiten, die ebenfalls zum Erfolg führen können. Wenn man sich erfolgreiche Biografien ansieht, stellt man fest, dass die meisten ihre Karriere nicht im Voraus geplant haben. Es ist wichtig, einen offenen Geist zu bewahren und bereit zu sein, verschiedene Wege im Leben zu erkunden.
Gibt es einen Tipp, den Sie sich zu Beginn Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn gewünscht hätten?
Tipps gibt es viele und wahrscheinlich hätte ich sie alle selbst ignoriert. Ein wichtiger Ratschlag für den Erfolg ist, dass man das, was man tut, mit Leidenschaft macht. Wenn man merkt, dass man das nicht kann, sollte man schnell die Konsequenzen daraus ziehen und weitersuchen. Wenn Sie etwas gefunden haben, das Sie begeistert, bleiben Sie dabei und lassen Sie sich nicht von aktuellen Trends beeinflussen.
Meiner Meinung nach hat man oft erst Erfolg, wenn man dafür einen gewissen Leidensdruck aushalten muss. Ansonsten war der Traum wahrscheinlich nicht ambitiös genug. Es ist dann auch wichtig, eine gewisse Resilienz gegenüber Misserfolgen zu entwickeln. Das Scheitern ist ein entscheidender Gradmesser für die eigenen Fähigkeiten. Wenn Sie nie Erfolg haben, überschätzen Sie vermutlich Ihre Möglichkeiten. Wenn Sie nie scheitern, haben Sie sich selbst wahrscheinlich nicht genug herausgefordert. Wenn man das Glück hat, im Leben mit mehr Talenten ausgestattet zu sein als andere, dann hat man eine gewisse Verantwortung, etwas zurückzugeben. Diese Talente sollten von den Menschen in Ihrem persönlichen Umfeld wie Eltern, Lehrpersonen oder Dozierenden, die Sie in Ihrer persönlichen Entwicklung begleiten, gefördert werden.
«Wenn mich Studierende nach Karrieretipps fragen, empfehle ich ihnen immer, sich nicht zu sehr auf eine Option zu versteifen. Es ist wichtig, einen offenen Geist zu bewahren und bereit zu sein, verschiedene Wege im Leben zu erkunden.»Professor Joachim Buhmann
Lassen Sie uns ein wenig in der Zeit zurückgehen. Sie haben zunächst an der TU München Physik studiert und später in theoretischer Biophysik promoviert. Wie sind Sie zum maschinellen Lernen gekommen?
Mein Doktorvater war theoretischer Biophysiker, aber meine Forschung konzentrierte sich auf die Speicherkapazität von sogenannten Hopfield-Netzen. Dabei handelt es sich um eine besondere Art von künstlichen neuronalen Netzen. Wenn man solche Modelle untersucht, dann ist man im Grossen und Ganzen bereits im gleichen akademischen Garten wie die Informatik unterwegs. Es ist nicht mehr nur reine Physik, denn es geht nicht um unbelebte Materie, sondern um die Informationsverarbeitung. Dieser Bereich war damals noch nicht vollständig in der Informatik angekommen, aber er ist eindeutig Teil des Fachs. Später in meiner Karriere zog ich nach Bonn und arbeitete als ausserordentlicher Professor für praktische Informatik weiter auf dem Gebiet der neuronalen Netze.
Warum sind Sie an die ETH gekommen?
Ich war ausserordentlicher Professor in Bonn und hatte dort keine Aufstiegsmöglichkeiten. Als ich 43 Jahre alt war, erhielt ich die Chance, ordentlicher Professor an der ETH Zürich zu werden. Die ETH hatte damals wie heute einen hervorragenden Ruf, auch wenn die Universität Bonn in Deutschland in Mathematik (und dort war damals die Informatik angesiedelt) ebenfalls hervorragend war. Meine Frau und ich hatten zwar bereits ein Haus in Bonn gebaut, aber da unsere Kinder mit der Schule fast fertig waren, bot sich ein Wechsel zu diesem Zeitpunkt an. An eine weniger bedeutende Universität wäre ich wahrscheinlich nicht gezogen, da jeder Umzug erhebliche persönliche Ressourcen erfordert.
Woran haben Sie denn in Ihrer Forschungskarriere gearbeitet?
Schon bevor ich an die ETH Zürich gekommen bin, habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie sogenannte Gruppierungsalgorithmen ihre Daten in verschiedene Gruppen einteilen. Diese Zuteilung funktioniert anders als bei Klassifizierungsalgorithmen. Bei Klassifizierungsalgorithmen werden Daten meist von einem Menschen händisch annotiert und mit diesen Annotationen werden die Algorithmen dann trainiert. Man möchte beispielsweise Bilder von Hunden und von Katzen in zwei Gruppen automatisch einteilen und legt an einem Trainingsdatensatz zuvor fest, dass ein Bild entweder in die Gruppe «Hund» oder die Gruppe «Katze» eingeordnet werden soll.
Bei Gruppierungsalgorithmen gibt es keine zuvor definierten Labels, es ist also keine vorgegebene Klasse «Hund» oder «Katze» vorhanden. Trotzdem soll der Algorithmus am Schluss alle Objekte mit einem Label versehen. Ich wollte nun herausfinden, wie die Algorithmen bei der Gruppierung vorgehen, wenn es kein Qualitätsmass gibt, an dem sie sich orientieren können. Ich habe dann diese Theorie in verschiedenen biologischen und medizinischen Projekten angewandt. Der Ansatz der Gruppierungsalgorithmen spiegelt die Situation wider, in der sich ein Arzt befindet, der von einem Röntgenbild und weiteren Informationsquellen eine Ergebnisvorhersage für die Überlebenswahrscheinlichkeit seines Patienten oder seiner Patientin treffen muss.
Wie hat sich Ihr Forschungsfeld an der ETH Zürich in den letzten zwanzig Jahren verändert?
Ich hatte nicht vorhergesehen, dass mein Forschungsbereich in den letzten 15 Jahren dermassen explodieren wird. Es sind unglaublich spannende Zeiten. Der aktuelle Aufschwung der Künstlichen Intelligenz betrifft alle Wissenschaften und ist für mich als ausgebildeter Physiker mit der Einführung der Quantenmechanik in der Physik vergleichbar. Als Student wollte ich in meinem Beruf genug wissen, um eine solche Revolution in meinem Forschungsfeld bewusst wahrnehmen zu können und vielleicht sogar selbst etwas dazu beizutragen. Es ist für mich ein absoluter Glücksfall, dass ich diese Zeit wahrgenommen habe und als Forscher aktiv miterleben durfte.
Als ich ans Departement Informatik gekommen bin, interessierte sich kaum jemand für maschinelles Lernen. Einige Professoren, auch in anderen Forschungsbereichen, setzten maschinelles Lernen in ihrer Forschung zwar ein, aber niemals in dem Ausmass, wie es heute gemacht wird. Und am Departement Informatik gab es niemanden, der das maschinelle Lernen zu seinem Kerngebiet gemacht hat. Heutzutage ist das anders. Nun gibt es ein Institut für Maschinelles Lernen mit 11 Professorinnen und Professoren.
Sehen Sie diesen Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz eher mit Sorge oder Begeisterung entgegen?
Über die Entwicklung in der Wissenschaft bin ich nicht besorgt. Meine Sorge besteht, wenn überhaupt, darin, dass die Gesellschaft die Folgen dieser wissenschaftlichen Fortschritte möglicherweise nicht genügend versteht oder vorhersehen kann. Neue Technologien – einschliesslich der künstlichen Intelligenz – haben das Potenzial, viel Gutes zu bewirken, aber sie können auch missbraucht werden. Die künstliche Intelligenz ist eine Technologie, die das menschliche Denken verbessert, indem sie die Grenzen der menschlichen Kapazität, Fakten zu speichern und Komplexität zu erfassen, enorm erweitert. Denn das menschliche Gehirn neigt dazu, Details zu ignorieren und sich auf das grosse Ganze zu konzentrieren, also zu abstrahieren. Es ist ein wichtiger Bildungsauftrag, dass die Gesellschaft lernt, wie diese Systeme auf ethisch korrekte Weise eingesetzt werden können. Es müssen neue Verfahren entwickelt werden, um Transparenz, Verantwortung und Fairness bei der Anwendung dieser Programme zu gewährleisten.
An der ETH waren Sie sowohl Forscher als auch Dozent und haben einige Verwaltungsrollen übernommen. Wie blicken Sie auf Ihre Zeit als Prorektor zurück?
Ich war vier Jahre lang Prorektor Studium an der ETH. Die Rolle erforderte viel Zeit und Einfühlungsvermögen. Es sind aber auch unglaublich interessante Fragestellungen, die auf einen zukommen und die mit einer enormen Verantwortung einhergehen. Man wird mit Fragen konfrontiert, die sich an einer Schnittstelle befinden zwischen dem vorgefertigten Regelwerk und einer empathischen, ethisch korrekten Einzelfallbeurteilung. Die Entscheidungen, die man fällt, haben für jemanden signifikante Einschränkungen in seinen Lebensoptionen. Man muss zum Beispiel entscheiden, dass eine Person aus dem Studium ausgeschlossen wird. Das sollte zwingend von einem sehr guten Grund begleitet sein und nicht auf den Zufälligkeiten von irgendwelchen Prozessen beruhen. Die Rolle als Prorektor war sicherlich eine Herausforderung, aber ich glaube, dass ich da mit Augenmass vernünftige Lösungen beisteuern konnte. Mein wissenschaftlicher Hintergrund hat mir sicherlich bei dieser Verwaltungstätigkeit geholfen. Im Wesentlichen geht es als Prorektor um die Kontrolle von Prozessen, die ablaufen. Das hat viel mit Informatik zu tun, wo wir automatisierte Prozesse entwickeln, die dann vom Computer ausgeführt werden sollen.
Gibt es etwas, das Sie in Ihrer Zeit als Prorektor dazugelernt haben?
Ich bin in erster Linie Wissenschaftler geworden, um zu forschen. Neben dem Produzieren neuen Wissens habe ich aber als Hochschullehrer auch die Verantwortung, bestehendes Wissen weiterzugeben. Während meiner Zeit als Prorektor habe ich gelernt, dass die erste Priorität der Universität immer die Lehre ist und die Forschung erst an zweiter Stelle folgt. Da sich die Qualität der Forschung aber leichter messen lässt, wird ihr oft mehr Bedeutung beigemessen als der Lehre. Studierende sollen an den Universitäten in erster Linie zu intelligenten Problemlöserinnen und Problemlösern ausgebildet werden, die auch unter grosser Unsicherheit vernünftige Entscheidungen treffen können – egal ob sie nachher in die Industrie gehen oder an der Universität bleiben.
Etwas weiteres, was ich in diesem Zusammenhang gelernt habe: Alles, was wir tun, ist eine Dienstleistung für die Gesellschaft. Das gilt für Verwaltungsaufgaben genauso wie für die Arbeit in Forschung und Lehre. In diesem Sinne sind alle drei Bereiche in meinen Augen gleichwertig zu schätzen.
Sie werden im kommenden Juli emeritiert. Was werden Sie im Ruhestand am meisten vermissen?
Wenn man eine Zeit lang an einem Ort war, neigt man dazu, sich nach dieser vertrauten Umgebung und der Gemeinschaft mit den Kolleginnen und Kollegen, den Doktorierenden, Postdocs und den Studierenden zu sehnen. Sicherlich werde ich Vieles vermissen, aber ich glaube nicht, dass ich darunter leiden werde. Das ist aktuell eine optimistische Einschätzung und wenn Sie mich in einem Jahr noch einmal fragen, wird sich meine Meinung vielleicht geändert haben. Aber ich bin überzeugt, dass sich neue Möglichkeiten in der Zukunft ergeben werden.
Haben Sie konkrete Pläne?
Meine Familie ist relativ gross. Wir erwarten bald das achte Enkelkind. Da kommen sicherlich einige Aufgaben auf mich zu. Beruflich habe ich mich nicht auf eine direkte Anschlussbeschäftigung vorbereitet und bin auch nicht aktiv auf der Suche nach einer solchen. Ich möchte aber meine Kontakte zum Institut aufrechterhalten und versuchen, mich als emeritierter Professor nützlich zu machen. Ich denke auch, dass ich weiterhin forschen werde, aber wahrscheinlich weniger als bisher. Gerne würde ich meine Zeit und Expertise auch in die Öffentlichkeitsarbeit einbringen, um die Gesellschaft bei dieser digitalen Transition zu unterstützen.
Joachim Buhmann war von 1992 bis 2003 Professor für praktische Informatik an der Universität Bonn, bevor er einem Ruf der ETH Zürich folgte und ordentlicher Professor für Informatik wurde. In Lehre und Forschung konzentrierte er sich auf Fragestellungen auf den Gebieten der Mustererkennung und der Datenanalyse, was unter anderem auch das maschinelle Lernen, die statistische Lerntheorie und die angewandte Statistik umfasst. Professor Buhmann übernahm an der ETH wichtige Verwaltungsfunktionen. Dazu zählen das Amt als Prorektor für Studium (2014-2018) und die Leitung des Instituts für maschinelles Lernen (2014-2023). Seit 2017 ist er zudem Mitglied im Forschungsrat des Schweizerischen Nationalfonds.